
Der Autor erhielt für diesen Roman schon im Erscheinungsjahr 2016 den National Book Award und 2017 den Pulitzer-Preis. Somit dürfte man eigentlich ein erstklassiges Werk erwarten. Ich jedenfalls erwartete das – und wurde sehr enttäuscht, aus folgenden Gründen:
- Im Roman, der ja gewiss bezüglich Wirklichkeitsnähe grosse Freiheiten beanspruchen darf, ist der Underground Railroad tatsächlich ein Netzwerk von Eisenbahnlinien, die in unterirdischen Tunnels liegen. In Wirklichkeit war der Underground Railroad nichts davon, sondern ein über weite Teile des US-Südens und der Nordstaaten gespanntes Netzwerk von Gegnern der Sklaverei und Menschen, die entlaufene Sklaven vor der Verfolgung durch ‚Sklavenjäger‘ schützen wollten. Das Netzwerk war informell, natürlich geheim, organisierte Fluchten aus den Gebieten, in denen die Sklaverei hochgehalten wurde, sowie Transporte aus den Süd- in die Nordstaaten oder den US-Westen (damals noch nicht systematisch in Staaten unterteilt). Eisenbahnen waren jedoch kein Thema, schon gar nicht Tunnels; denn der Roman ist in der Zeit vor dem Amerikanischen Bürgerkrieg (1861 – 1865) angelegt. In dieser Periode, also vor 1861, war das amerikanische Eisenbahnnetzwerk gerade erst im Aufbau begriffen. Es ist geradezu lächerlich, wie weit der Autor die Metapher ‚Railroad‘ treibt und übertreibt: er erfindet Stationen und Stationsvorsteher; und er faselt sogar davon, dass es eine besondere Leistung war, eine Lösung für die die Entlüftung der Tunnels zu finden – die Züge fuhren schliesslich mit Kohle und produzierten Rauch und Dampf.
- In South Carolina gab es eine Stadt mit einem 12-stöckigen Hochhaus (mit Lift!). Für die Zeit vor 1861 ist das völlig abwegig.
- Die Heldin des Buchs heißt Cora; sie ist die Enkelin von Ajarry, die noch als junges Mädchen in Afrika versklavt wurde. Grossmutter und Mutter (namens Mabel) lebten auf der gleichen Farm, auf der auch Cora auf die Welt kam und als Sklavin gehalten wurde. Fast alle ‚Mitsklaven‘ tragen typisch weisse Namen. Das ist höchst unglaubhaft (siehe «Freakonomics», Besprechung 2020-06). Cora erhält nie eine formale Schulbildung, hat aber eine Vorstellung von der Geografie Afrikas, setzt sich auf hoher Ebene mit Konzepten wie Freiheit, Gleichheit, Mitwirkungsansprüchen etc. auseinander; lernt weitgehend autodidaktisch Lesen und Schreiben; verbringt jede freie Minute (von denen sie allerdings bei ihrem ständigen Kampf ums Überleben kaum eine hat) mit dem Lesen von Büchern.
- Die letzte Etappe, die im Roman geschildert wird, verbringt Cora auf einer Farm, die ein Mischling, zusammen mit seiner Frau, aufgebaut hat und führt, der seine Angestellten (alles entweder freigelassene oder entlaufene ehemalige Sklaven) sehr grosszügig behandelt und ihnen sogar seine gut ausgestattete persönliche Bibliothek zugänglich macht, obwohl die allermeisten von ihnen damals Analphabeten gewesen sein müssen…
Das alles ist im Rahmen der künstlerischen Freiheit in einem Roman natürlich gestattet. Aber der Autor sollte ersichtlich machen, warum und wozu er solche Verfremdungen einsetzt. Whitehead unterlässt dies total. Deshalb zweifeln Leserinnen und Leser fast zwangsläufig, ob denn alles andere, was der Autor in die Geschichte hineinpackt, ebenfalls an den Haaren herbeigezogen und übertrieben ist. Und das ist schade. Mir scheint, die Geschichte von Cora und ihren Leidensgenossen hätte auch eindrücklich und unauslöschlich erzählt werden können, ohne zu solchen Mätzchen und Verfälschungen zu greifen.
Denn die Schilderung der hoffnungs- und perspektivlosen Situation der Sklaven und des verbrecherischen Umgangs der Südstaatenfarmer mit ihnen ist herzzerreissend. Dabei spielt es letztlich keine grosse Rolle, ob da jede Einzelheit stimmt, ob die geschilderten Verbrechen auch tatsächlich repräsentativ für die Gesamtheit der Südstaatenverhältnisse sind. Denn, wenn nur schon ein Bruchteil stimmt oder annähernd die Wirklichkeit abbildet, ist es schlimm genug.
Die Tatsache, dass die Sklaverei, welche durch die europäischen Kolonisatoren nach Nord- und Südamerika importiert wurde, ist sicher eines der trübsten Kapitel der Geschichte der alten und neuen Welt. Der «Underground Railroad» wirft ein grelles und verstörendes Licht darauf.