Und Nietzsche weinte

Und Nietzsche weinte
Irvin D. Yalom, 2018-23

Die Story des Romans beginnt mit Kurzferien von Dr. Josef Breuer, einem angesehenen Wiener Arzt und Mitbegründer der Psychoanalyse, in Venedig. Dort wird er von der ihm völlig unbekannten äusserst selbstbewussten und souverän auftretenden jungen Russin Lou Salomé aufgesucht und mit der Bitte ‚überfallen‘, Salomés Freund oder Bekannten Friederich Nietzsche als Patient zu behandeln; Nietzsche wird von Salomé als die grösste Hoffnung der deutschen Philosophie geschildert, der sich jedoch in einer suizidgefährlichen Depression befinde, und dessen frühzeitiger Tod für die Gesellschaft ein unermesslicher Verlust wäre. Breuer sei ihre letzte Hoffnung, denn bisher habe kein Arzt Nietzsche helfen können. Nietzsche darf aber nicht erfahren, dass Salomé den Kontakt eingefädelt hat. Sie übergibt Breuer einige der zwar publizierten, aber in der Öffentlichkeit noch völlig unbekannten oder ignorierten frühen Schriften Nietzsches, durch die Breuer eine Vorstellung vom Denken Nietzsches bekommt – er ist beeindruckt. Breuer lässt sich von Salomé bezirzen und empfängt Nietzsche in seiner Wiener Praxis. Daraus entwickelt sich eine inverse Arzt-Patienten-Beziehung; denn, nachdem Breuer feststellen muss, dass er nicht an Nietzsche ehrankommt, weil dieser völlig verschlossen bleibt und alles, was nach Hilfe oder Annäherung aussieht, brüsk und kategorisch zurückweist. Breuer befindet sich selbst in einer existenziellen Lebenskrise und dreht den Spiess um, indem er Nietzsche bittet, ihm sozusagen als Arzt zu helfen, diese Krise zu überwinden. Breuer hofft, dass dieses Vorgehen Nietzsche dazu bringen könnte, sich zu öffnen, denn er sieht starke Parallelen zwischen der Situation Nietzsches und deren Ursachen und seiner eigenen Krise.

Nietzsche geht darauf ein, und im Verlauf der Gespräche zwischen den beiden wird sehr viel von Nietzsches Philosophie und sehr viel Psychoanalyse eingeflochten.

Der Ausgang dieses ‚Experiments’ überrascht, nicht nur die Beteiligten.

Für mich ist unfassbar, wie intelligente und in ihrer Berufswelt völlig rational denkende und handelnde Menschen wie Nietzsche und Breuer in ihrem privaten Leben in dermassen existenzielle und lebensbedrohende Situationen geraten können, und dass sie sich daraus nicht mit eigenen Kraft befreien können. Das Paradox, dass solche Menschen dann aber anderen Menschen als Therapeuten helfen können, ist und bleibt für mich ein Rätsel.

Yalom schreibt flüssig und fantasievoll. Er mutet aber Lesern oder Leserinnen, die gegenüber der Psychoanalyse kritisch oder mindestens skeptisch eingestellt sind, einiges zu. Der Roman ist aber insofern interessant und lesenswert, indem er die handelnden Personen, auch wenn die Begegnung Breuer-Nietzsche fiktiv ist, näherbringt und in die Anfänge der Psychoanalyse einführt.

Irvin D. YalomGewissermassen nebenbei erfahren Leserinnen Leser viel über Nietzsches Denken und Theorien, die als Philosophie zu bezeichnen mir schwerfällt. Denn in dem, was Yalom in den Roman eingeflochten hat, erkenne ich kein kohärentes und schon gar kein rational nachvollziehbares Gedankengebäude, aus dem sich praktische Handlungsanweisungen zum ‚guten‘ oder ‚richtigen‘ Leben, zur Sinnsuche oder zur Lösung von gesellschaftlichen Problemen herleiten liessen. Mir scheint, Nietzsche habe sich seine ‚Philosophie‘ so zurechtgelegt, dass sie ihm eine höhere geistige Rechtfertigung für sein ‚So-sein-Wollen‘ liefern möge. Seine Idee der ‚ewigen Wiederkehr‘, mit der er seinem Leben einen Sinn gab, ist erstens völlig frei von Fakten, empirischen Grundlagen und Bezügen zu Erkenntnissen anderer Denker, und zweitens eine sehr gute Illustration dessen, was ich meine, wenn ich vermute, Nietzsche habe damit primär seine persönliche Lebens-Exzentrizität so weit gerechtfertigt, dass er sich sogar als ‚auserwählt‘ wähnte und seiner Zeit um Generationen voraus fühlte. Er benötigte solche Konstrukte, um sich selbst nicht in Frage stellen zu müssen – denn davor hatte er Angst.