Über Menschen

Über Menschen
Juli Zeh, 2021-10

Dora, um die 35, ursprünglich aus Münster, als junge Frau nach Berlin verpflanzt und dort im Kreativ-Milieu der Werbung sozialisiert, kauft, nachdem ihre langjährige Beziehung mit Robert (der sich von einem amüsanten Partner in einen fanatisch-verbissenen Ökofundamentalisten verwandelt hat – es ist ja Greta-Zeit) am Zusammenbrechen ist, ein sehr renovierungsbedürftiges ehemaliges Gutshaus in Bracken (ein Kaff in Brandenburg, etwa 100km von Berlin entfernt, zieht dorthin, lebt spartanisch möbliert allein im grossen Haus, arbeitet im Home Office (es herrscht ja Corona) weiter als angestellte Werbetexterin für eine zeitgeistige Agentur in Berlin, und sie beginnt mit der Urbanisierung ihres verwilderten Gartens.

So viel wissen Leserinnen und Leser nach den ersten 10 Seiten, und man frägt sich unwillkürlich, ob das ein genügend tragfähiges Fundament für einen Plot ist, der 412 lesenswerte Seiten hergibt und nicht langweilt.

Es ist – und das gelingt Juli Zeh ganz ausgezeichnet. Es erstaunt wohl kaum, dass in einem 2021 publizierten Roman die gängigen Clichés des innerdeutschen Gesellschaftsdialogs (der eigentlich gar keiner ist, weil er aus lauter konfrontativen Monologen besteht, die einander an den Kopf geworfen werden) einen gewissen roten Faden hergeben:

  • Die Städter sind klug, die Landbevölkerung ist dumm, debil und verbohrt.
  • In Brandenburg (stellvertretend für alle ehemaligen DDR-Gebiete) leben Nazis und fanatisierte AfD-Jünger.
  • Wer AfD wählt, ist böse; wer grün oder rot wählt, hat das Herz auf dem rechten Fleck.
  • Schwule, die auf dem Land einen Bauernhof betreiben, und oh Schreck AfD wählen, müssen kriminelle Drogenbarone sein, weil es in deren geschlossenen Gewächshäusern und in alten Scheunen und Geräteschuppen nichts anderes anzubauen gibt als Rauschgifte.
  • Auf dem Land hilft man sich, in der Stadt herrscht ,me-first-Egoismus’ und Kälte.
  • Wer Greta oder die aktuelle Umweltpolitik kritisiert, ist ein Klimaleugner.
  • Wer die Corona-Politik der Regierungen auf Landes- oder Bundesebene mitträgt und unterstützt, ist ein verkappter Diktator.

Zeh seziert und dekliniert diese Clichés gekonnt, sprachgewandt und bissig-amüsant durch und präsentiert in Summe eine Geschichte, die sich äusserst gut liest und – auch beim kritisch-nachdenklichen Leser (Achtung: generisches Maskulinum!) – Mit- und Nachdenken auslöst. Wohltuend ist, dass sie nicht den geringsten Versuch macht, die Clichés zu widerlegen oder zu bekräftigen. Sie ist eine nüchterne Beobachterin, die – durch die Augen und Gedanken ihrer Protagonisten – Pros und Kontras sieht und es dem Leser überlässt, zu urteilen.

Sie behandelt im Roman nicht die Clichés als solche und verzichtet vollständig auf deren moralische Qualifizierung. Sie rankt um die einzelnen Clichés in sich abgeschlossene Geschichten oder Episoden und lässt die Clichés auf ihre Leserinnen und Leser einwirken, indem sie sie in ihre Geschichte – fast wie einen roten Faden – hineinwebt und in das Denken und Handeln ihrer Romanfiguren integriert.

Das Ende ist Thriller-reif und lässt Vieles offen. Ich schätze es sehr, dass Juli Zeh (im Unterschied zu vielen ihrer zeitgenössischen Kolleginnen und Kollegen) ihre Leserschaft für so selbständig hält, dass sie nicht alle Möglichkeiten ausbuchstabieren muss, und dass es auch ohne ,Moralkeule’ geht.

Die einzige kritische Bemerkung, die mir auf der Zunge liegt, ist der Umgang von Zeh mit der Metaebene, insbesondere bei Dora, ihrer Hauptperson. Dora ist geradezu süchtig danach, sich ständig von aussen oder oben zu beobachten und über das, was sie sieht, zu reflektieren. Hinter jedem Baum steckt eine Assoziation an ein Jugenderlebnis, an eine Erfahrung, die sie in ihrer Beziehung mit Robert hatte, oder eine andere zwischenmenschliche Begebenheit, die sie reflektiert und für sich selbst in irgendeiner Art als prägend empfindet. Ich frage mich, ob ein Mensch, der so viel ,meta-denkt’, noch genügend Zeit und Aufmerksamkeit findet, um bewusst und zupackend im Hier und Jetzt leben und handeln zu können.

Trotz dieses von mir als Mangel empfundenen Details ist die Lektüre ein Genuss und sehr zu empfehlen.