
Dieses Buch ist 2019 erschienen, also brandneu. Es setzt sich – über alles gesehen – erschöpfend mit allen Aspekten der Klima-Entwicklung und deren Folgen für die Menschheit auseinander. Es stellt einerseits die Klima-Problematik wissenschaftlich, besser: wissenschaftsjournalistisch dar; anderseits ist es eine anregende und auch gesellschaftskritische Auseinandersetzung mit dem Umgang der Gesellschaft mit dem Klimawandel. Es enthält eine Fülle von bestens dokumentierten Anmerkungen zu den verwendeten Quellen; der Autor zitiert mehrheitlich aus neusten anerkannten offiziellen (UNO und Unterorganisationen) wissenschaftlichen Publikationen, macht aber auch Querbezüge zu literarischen oder philosophischen Positionsbezügen, bis hin zu einer Betrachtung über den Umgang in der Pop-Kunst mit Katastrophen oder Weltuntergangs- oder Horrorszenarien.
Unter der Annahme, dass Wallace-Wells seine Quellen richtig zitiert, ist das Buch eine erschreckende Lektüre – es raubt einem die Seelenruhe und manchmal den Schlaf, und lässt einem bestenfalls den Trost der frühen Geburt.
Eine bemerkenswerte Passage (u.a. Im Hinblick auf Klimadiskussionen im Freundeskreis) findet sich auf Seite 148ff:
«This is not to say that it (Anmerkung BB: gemeint ist das ‚global warming’) is distributed evenly; though climate change will be given its ultimate dimensions by the course of industrialization in the developing world, at present the world’s wealthy possess the lion’s share of guilt – the richest 10% producing half of all emissions. This distribution tracks closely with global income inequality, which is one reason that many on the Left point to the all-encompassing system, saying that industrial capitalism is to blame. It is. But saying so does not name an antagonist; it names a toxic investment vehicle with most of the world as stakeholders, many of whom bought eagerly in. And who in fact quite enjoy the present way of life. That includes, almost certainly, you and me and everyone else buying escapism with our Netflix subscription. Meanwhile, it simply isn’t the case that the socialist countries of the world are behaving more responsibly, with carbon, nor that they have in the past.»
Viele in meinem Bekannten- und Freundeskreis hören beim Satz „It is.“ mit dem Denken auf und bleiben in ihrer Kapitalismus-Kritik-Blase kleben. Wallace-Wells drückt in dieser Passage jedoch genau das aus, was ich meine, wenn ich meinen linken Freunden im Engadin und anderswo sage und sie damit in Wallungen bringe: Der Gegensatz zwischen Kapitalismus und ‚gutem Leben‘ existiert nicht; wir sind alle Teil dieser über Jahrtausende entstandenen Gesellschaftsordnung, die man vereinfachend und zu häufig gedankenlos polemisch ‚Kapitalismus‘ nennt; wir arbeiten in den kapitalistischen Unternehmungen, wir leben vom Arbeitslohn; als Konsumenten nutzen wir die Produkte und Dienstleistungen dieser Unternehmungen; auch als Staatsangestellte oder Mitarbeiter von ‚not-for-profit‘-Organisationen leben wir von Steuereinnahmen oder Spenden dieser kapitalistischen Produzenten. Auch als Selbständigerwerbende sind wir davon abhängig, dass unsere Kunden oder Auftraggeber die finanziellen Mittel haben (woher wohl?), um unsere Dienste zu bezahlen. Als Staatsangestellte regulieren wir die Mechanismen des Kapitalismus. All das machen wir freiwillig… Und schliesslich als Staatsbürger sind wir sehr, sehr grosszügig, vom Staat immer mehr zu verlangen, was dieser jedoch nur leisten kann, indem er den Unternehmenserfolg sehr grosszügig besteuert. Wir erwarten vom Staat eine perfekt funktionierende Infrastruktur, moderne Schulen von der Kinderkrippe bis zu den Hochschulen, Spitzenmedizin in den Spitälern (möglichst in unserer unmittelbaren Nachbarschaft), und selbstverständlich eine allzeit präsente, liebevolle und fachlich kompetente Rund-um-die-Uhr-Betreuung, wenn wir alt und gebrechlich sind.
Viele Linke wollen nicht einsehen, dass wir alle Teil des industriellen Kapitalismus sind, und dass es den Gegensatz: „Hier die bösen Kapitalisten versus die guten Retter der Welt“ schlicht und einfach nicht gibt.
Aber zurück zu The Uninhabitable World – Life After Warming.
Im Hauptkapitel „Elements of Chaos“ (knapp 50% des Buchtexts) beschreibt der Autor einzelne Gefahren, denen die Menschheit durch den Klimawandel ausgesetzt ist; dazu gehören Massensterben durch Hitze, Hungersnöte, Überflutungen (steigende Meeresspiegel – bis zu 100m bis 2100; häufigere Überschwemmungen durch ‘überlaufende’ Ströme), Brände, sogenannte ‚Naturkatastrophen‘ wie häufigere und stärkere Wirbelstürme oder Tornados, Erschöpfung des Grundwassers, sterbende Ozeane, non-fossile Luftverschmutzung. Zuerst behandelt er diese Gefahren einzeln und isoliert, macht aber immer wieder Hinweise darauf, dass es zwischen den einzelnen Gefahren Querbeziehungen gibt, die sowohl eine verstärkende als auch eine bremsende Wirkung ausüben können. Unter dem Titel ‘Systems’ geht er dann auf die aggregierte Wirkung der einzelnen Gefahren ein; daraus entsteht eine apokalyptische Sicht auf das, was der Menschheit innert wenigen Generationen bevorstehen kann – und wird, wenn es nicht gelingt, den Klimawandel zu stoppen und rückgängig zu machen. Wallace-Wells gehört nicht zu den alarmistischen Kassandren und Verschwörungstheoretikern. Er weist immer wieder darauf hin, dass die wissenschaftlichen Studien, allen voran diejenigen des IPCC, in jeder Hinsicht seriös und zuverlässig sind, dass aber auch in diesen Studien immer wieder davon die Rede ist, dass die Bandbreite der denkbaren Entwicklungen sehr gross ist. Die grösste Unsicherheit sieht er aber nicht in den Unsicherheiten der Prognosen, sondern in der Unsicherheit über das, was die Menschen ab sofort und in Zukunft unternehmen werden und können, um den Klimawandel zu bremsen und Immissionen, die sich bereits in der Atmosphäre befinden, wieder herunterzuholen (‘carbon capture’).
Im anschliessenden Kapitel „The Climate Kaleidoscope” beschreibt der Autor sehr essayistisch und – ich vermute es – auch subjektiv selektiv, wie die Menschheit mit den drohenden Klimagefahren umgeht. Er deckt das gesamte Spektrum von überdrehten Weltuntergangsprophezeiungen bis zum üblichen linken Gerede von der bösen Wirtschaft ab. Er selbst steht aber klar auf dem Standpunkt, dass eine wirksame Lösung nur darin bestehen kann, dass wir alle, jeder für sich an seinem Platz, radikal umdenken und unser Tun und Lassen neu orientieren müssen, und zwar dringend, d.h. seit vorgestern. Wallace-Wells erwartet auch von Technik und Unternehmertum einen grossen Lösungs-Beitrag (obwohl in vielen Gebieten zwar Ziele in Umrissen klar werden, der Weg zum Ziel jedoch noch im Nebel steckt).
Die Kernpunkte des Autors, die man allerdings in den teils episch langen und von Redundanz strotzenden philosophischen Betrachtungen mühsam zusammensuchen muss, sind:
- Wenn der Klimawandel überhaupt wirksam bekämpft werden soll, besteht dringender Handlungsbedarf. Die von der internationalen Gemeinschaft bisher getroffenen – eigentlich müsste es richtigerweise heissen ‘zugesagten’ – Massnahmen sind lückenhaft, teilweise dilettantisch und widersprüchlich, und in keiner Hinsicht aufeinander abgestimmt.
- Selbst wenn es gelänge, über Nacht die klimaerwärmenden Immissionen weltweit auf Null zu reduzieren, würde all das, was in den letzten Jahrzehnten in die Luft ‚entlassen’ wurde, genügen, das Pariser Klimaziel von 2C, noch besser 1.5C, zu verfehlen.
- Die Folgen der eher wahrscheinlichen Erwärmung der Erdatmosphäre auf 3 – 4C sind verheerend: Millionen Quadratkilometer von fruchtbaren Küstengebieten werden überflutet; die Durchschnittstemperaturen im äquatorialen Gürtel steigen so hoch an, dass ein Aufenthalt im Freien Mensch und Tier zum Kochen bringt, weil ein Wärmeaustausch zwischen Körper und Umluft nicht mehr möglich ist. Dies wird materielle Verluste verursachen, die ein Mehrfaches des heutigen Welt-Vermögens ausmachen; und es wird Hunderte von Millionen von betroffenen Menschen in die Flucht und Migration jagen.
Den Schlüsselsatz, der Wallace-Wells (noch) nicht verzweifeln lässt, bringt er im Kapitel „The Anthropic Principle”: «If humans are responsible for the problem (Anmerkung BB: gemeint ist die Klimaproblematik), they must be capable of undoing it.» (Seite 220)