Sweet Tooth

Sweet Tooth
Ian McEwan, 2013-19

Für mich hat Ian McEwan bessere Romane geschrieben.

Der ‚Süsse Zahn‘ (in der deutschsprachigen Ausgabe schwach mit «Honig» übersetzt) ist eine durchkonstruierte komplexe Geschichte, deren Heldin Serena Frome (‚rhymes with plume‘) ist: eine zu Beginn knapp 20-jährige Tochter eines anglikanischen Land-Bischofs, die in den frühen 1970-Jahren in Cambridge auf Drängen ihrer Mutter Mathematik studiert (eigentlich würde sie Literatur bevorzugen) und eher durchschnittlich abschliesst. Sie erlebt und reflektiert den Zeitgeist ihrer Epoche als Studentin und in ihrer Familie (am Beispiel ihrer missratenden Schwester). Folgerichtig findet ihr Berufseinstieg im englischen Geheimdienst MI5 statt, wo sie – entsprechend ihrer Neigung zur Literatur – als Agentin zur Anwerbung und Betreuung eines jungen und vielversprechenden Autors eingesetzt wird. Dieser soll von einer unverfänglich aussehenden, aber vom Geheimdienst finanzierten Stiftung ein Stipendium erhalten, das ihm ermöglicht, seine Schriftstellerkarriere ohne Existenzsorgen aufzubauen. Es gehörte in der Epoche in allen politischen Lagern zum Szenario des Kalten Kriegs, den Kampf der Ideologien auch auf kultureller Ebene zu führen, wobei es darum ging, alle möglichen Kanäle auszunutzen (Beispiele auf westlicher Seite: BBC World, Voice of America), um die ideologisch richtige Botschaft (Werte wie Freiheit, Selbstverantwortung, etc.) zu verbreiten.

Der Roman schildert sehr eindringlich und bedrängend die Situation des Vor-Thatcher-ischen England, dessen Gesellschaft, Wirtschaft und die soziale und politische Befindlichkeit des Landes. Ich hatte bei der Lektüre, nachdem ich mich in dieser Periode sehr häufig beruflich in London aufhielt, manche Aha-Effekte. Mit der Lektüre ist sozusagen eine Reise in die nahe englische Vergangenheit verbunden.

McEwan spinnt den Plot des Romans äusserst gekonnt so, dass man als Leser immer wieder überrascht wird. Die grösste Überraschung ist der Schluss des Romans, der – natürlich! – viel offen lässt. Aber das ist ja gut in dem Sinn, dass Leserinnen und Leser Stoff zum selber Denken bekommen.

PS:

Im ‚Literaturclub’ vom 28. Januar wurde u.a. «Honig» von Ian McEwan besprochen. Elke Heidenreich und Rüdiger Safranski haben sich dabei mit Lob fast überschlagen. Auch Stefan Zweifel, Sendungsleiter, und Julian Schütt, Gast, waren des Lobes voll.

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