Strohöl

Strohöl
Hansjörg Anderegg, 2015-07

Der brandneue ‚Anderegg‘ überrascht schon mit dem seltsamen Titel. Abgesehen davon, dass sich Strohöl auf Rohöl reimt, erinnert die Wortschöpfung an Ölvarianten wie Rapsöl, Nussöl, Olivenöl oder Palmöl. Dabei stimmt die Analogie sogar, denn in allen aufgeführten Fällen verrät das Wort schliesslich, woraus das fragliche Öl gewonnen wurde – in diesem Fall also aus Stroh. Mehr dazu später.

Anderegg nähert sich mit seinem Opus 14 – endlich – der politischen Korrektheit: neben der legendären Chris Roberts, ehemals Hegel, spielt nämlich ein lesbisches Paar eine zentrale Rolle. Eine der beiden Damen kommt leider viel zu früh ums Leben, dafür hat die andere einen vorlauten, neugierigen und frühreifen kleinen Sohn; d.h. sie folgt dem modernen Zeitgeist, will heissen, dass sie einige Lebensentwürfe ausprobieren muss, bevor sie sich – endgültig? vorläufig? – für einen bestimmten festlegen kann. Zur Lebensabschnitts-Partnerschaft (bis dass der Tod Euch scheidet ist passé) gehört also auch ein Lebensabschnitts-Lebensentwurf. Das Leben ist zu schön, um geradlinig zu sein.

Aber das ist eigentlich ein Nebenkriegsschauplatz. Im Wesentlichen geht es um das Frackingprojekt eines deutschen Chemiegiganten, der unter anderem in Bodenseenähe Probebohrungen durchführt. Zufällig verfolgt ganz in der Nähe dieser Probebohrung ein junges, von Maria, der lesbischen Freundin von Emma, gegründetes Start-up-Unternehmen das Ziel, mit genetisch modifizierten Mikroben (Bakterien) aus Stroh Bernsteinsäure herzustellen. Bernsteinsäure ist eine Basis-Chemikalie, aus der verschiedenste Wertstoffe, unter anderem Rohöl oder Kunststoffe, hergestellt werden können. Während es bei der Fracking-Probebohrung nur noch darum geht, die Wirtschaftlichkeit und Ergiebigkeit des Standorts zu beweisen, befindet sich Marias Jungunternehmen unmittelbar vor dem grossen Durchbruch, d.h. vor dem Nachweis, dass mit der ‚weissen Biotechnologie‘ Rohöl kostengünstiger als mit Fracking oder anderen Gewinnungsmethoden hergestellt werden kann.

Die beiden Vorhaben sind sich nur zufällig und nur räumlich nahe. Wenn da nicht Emma wäre, Marias Freundin. Sie ist Investigativ-Journalistin und arbeitet an einem Report, in dem sie belastendes Material über das Fracking-Unternehmen sammelt, mit dem sie beweisen kann, dass dieses mit ungesetzlichen Methoden arbeitet (Bohren in Tiefenlagen, die zu nahe bei Trinkwasservorräten liegen, sowie Einsatz von gesundheitsgefährdenden vom Gesetz verbotenen Chemikalien). Im Hinblick auf die potentielle Konkurrenzierung der Fracking-Projekte durch die ‚weisse Biotechnologie‘ sorgt der Chemiegigant hinter den Kulissen dafür, dass die Finanzquellen des Start-ups versiegen. Und weil der Gigant feststellen muss, dass Indiskretionen aus seinen Innereien der Journalistin zugespielt worden sein müssen, inszeniert er einen teuflischen Krieg gegen diese, u.a. um herauszufinden, wo das Leck liegt. Zwecks Vernichtung von belastendem Material wird die zentrale Installation der Probebohrung, in welcher die gesetzwidrigen Chemikalien gelagert sind, in die Luft gesprengt. Dass dabei ein Umweltaktivist, der zusammen mit Emma in die Installation eingedrungen ist, um weiteres Beweismaterial zu sammeln, ums Leben kommt, ist zwar ‚nur‘ ein Kollateralschaden, wird aber selbstverständlich vertuscht. Ab hier kreuzen sich die beiden Handlungsstränge (Frackingprojekt und Start-up-Unternehmen). Es folgen weitere Attacken auf Mitarbeiter und Kader des Start-ups sowie die Journalistin. Maria wird – kurz nach einem weiteren Experiment, bei dem der angestrebte Wirkungsgrad der Bakterien wesentlich übertroffen wird, von dessen Ergebnis jedoch erst Emma etwas erfährt – bei einem arrangierten Verkehrsunfall tödlich verletzt. Emmas Computer und Notizen werden gestohlen. Die gesamte Dokumentation der Versuchsreihe des Start-ups wird durch einen Brand des Labors (Ursache: Brandstiftung) zerstört.

Das ist die Stunde von Chris Roberts. Sie recherchiert im Raum Konstanz, in Leverkusen, Köln etc.; die Rolle des Chemiegiganten bei den tragischen Zwischenfällen zeichnet sich langsam aber sicher immer deutlicher ab. Was fehlt, sind Beweise.

Der Plot wird angereichert durch ein direkt über dem ‚Zielgelände‘ des Fracking-Projekts gelegenes Kloster, dessen Prior und Schatzmeister in extremer finanzieller Notlage dem Fracking-Unternehmen Land verkaufen. Der Deal wird von Emmas Bruder, der bei Konstanz ein lukratives Finanzunternehmen gegründet hat und betreibt (samt modernst ausgestattetem Handelsraum in einer alten Scheune – Schwarzenbach lässt grüssen), konzipiert, inklusive eines kniffligen Optionsgeschäfts, das den Gewinn des Klosters massiv erhöhen kann. Leider erkennt der Prior erst ‚post festum‘, d.h. nach dem Tod Marias, dass er sein Land Verbrechern verkauft hat; er begeht aus Verzweiflung Selbstmord.

Selbstverständlich klärt Chris unter dramatischen Umständen die Missetaten des Chemiekonzerns auf. Wie das alles aufgeht, wer dabei sonst noch draufgeht oder die grosse Liebe findet, sei hier jedoch nicht verraten, nicht einmal angedeutet – es würde den Genuss der Lektüre allzu sehr verderben.

Hansjörg Anderegg gelingt es einmal mehr, ein anspruchsvolles wissenschaftlich-technisches Thema von hoher Aktualität so in einen Thriller zu verpacken, dass Leser und Leserinnen Mühe haben werden, das Buch nicht in einem einzigen Zug zu verschlingen. Sie können einerseits viel über die involvierte Technik erfahren und lernen, und anderseits sich vergnüglich dem spannenden und variantenreichen Plot hingeben und sich an den witzigen und geistreichen Dialogen ergötzen.

Das Buch steigert die Erwartung an das nächste Opus und macht äusserst gwundrig auf das nächste wissenschaftliche Thema, aus dem der Autor wieder eine überraschende und relevante Thriller-Story herausdestilliert.Chapeau, und weiter so, Hansjörg!2015-07,Anderegg,Hansjörg,

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