Unter ,Paviansyndrom’ verstehe ich das Gefühl von Angst, Furcht vor Liebesverlust, Handlungszwang oder Unterworfensein, das dann entsteht, wenn eine Person eine freiwillige ausgeübte Rolle oder eine durch Konventionen erzwungene Rolle in der Gruppe oder Gesellschaft, in der sie lebt, nicht mehr weiter ausüben will.
Bei den Pavianen hat das Paviansyndrom durchaus katastrophale Folgen: die Paviane gehören zu einer Spezies, die in Clans lebt und im Clan eine ausgeprägte Rollenhierarchie und soziale Ordnung pflegt. Die jüngsten haben normalerweise die Aufgabe, die anderen Tiere, insbesondere die Ältesten, die gleichzeitig Clanchefs sind, mit Futter zu versorgen. Wenn sie ihre Pflichten vernachlässigen, werden sie physisch hart bestraft, verprügelt und manchmal schwer, sogar tödlich verletzt.
Dieses Phänomen überträgt sich sogar auf die Beziehung zwischen Pavianen und Menschen. In afrikanischen Naturparks, in denen Paviane leben, kommt es immer wieder – trotz unübersehbaren Verboten – vor, dass Besucher oder Touristen die Paviane füttern. Sie stellen sich damit – zwar freiwillig, aber unwiderruflich – auf die unterste soziale Stufe eines Clans, auf die Stufe der Futterträger. Die Paviane übertragen diese Einstufung auf alle Menschen, die ihnen begegnen – schon beim ersten und meistens wohl auch letzten Mal..
Wenn nun solche Menschen den Pavianen nicht genug oder – weil sie sich an die Verbote halten – kein Futter geben, werden die Paviane aggressiv. Es kommt immer wieder vor, dass Touristen, insbesondere wenn sie ihre Fahrzeuge verlassen, von den Pavianen angegriffen und manchmal schwer verletzt oder sogar getötet werden.
Menschen sind wie Paviane – wir sind ja auch nahe Verwandte. Auch in Menschenclans (Familien, Firmen, Vereinen, politischen Gruppierungen) gibt es eine soziale Ordnung, die genau festlegt, wer was zu tun hat, wer welche Rolle hat, was richtig oder falsch ist. Auch Menschen, die «von der Rolle» fallen, werden bestraft, normalerweise – wir sind ja im Unterschied zu den Pavianen zivilisiert – nicht physisch, sondern auf subtilere Art und Weise:
- Mobbing
- Liebesentzug
- Ausgrenzung
Fragen sie die viersprachige Sekretärin, die sich und ihren Chef nach vier Jahren «loyaler» Zu(sammen)arbeit fragt, ob es wirklich ihre Hauptaufgabe sein kann, Kaffee zu kochen und seine Brille zu polieren.
Oder den 22-jährigen Sohn des mittelständischen Gründer-Unternehmers, der lieber Musik machen als die Nachfolge des Vaters übernehmen will.
Oder den jungen Muslim in Iran, der seine Religionsgemeinschaft verlassen will; oder die junge Muslima in Anatolien (oder aus Anatolien, aber in Berlin), die nicht den «arrangierten» Mann, sondern einen, den sie und der sie liebt, heiraten will.
Oder eine Mutter, die ihren Mann und die drei Kinder, bis das jüngste zehnjährig wird, vollzeitlich mit Futter versorgt, für sie Wohnung und Zimmer putzt und aufräumt, Kleider einkauft, wäscht und bügelt, sie pflegt, wenn sie krank sind, für sie Ausreden erfindet, wenn sie keine Lust auf Schule haben, kurz: die Rolle des Dienstmädchens spielt und sogar Dinge macht, die ein Dienstmädchen verweigern würde. Fragen Sie diese Mutter, was das Paviansyndrom für sie bedeutet, wenn sie in diesem Zeitpunkt beschliesst, wieder ein eigenes Leben zu haben, eine neue berufliche Aufgabe zu übernehmen, oder zum Beispiel ein zugunsten der Familie zurückgestelltes Ausbildungsziel anzustreben, und dabei Mann und Kindern zumutet, sich selbst um ihren eigenen Mist zu kümmern.
Oder die 17-jährige Tochter der Familie, die seit drei Generationen stramm SP wählt, was ihr blüht, wenn sie sich für die SVP engagiert.Bei den Pavianen ist die soziale Ordnung ein Spiegel für die Machtstrukturen; d.h. es ist gleich wie bei den Menschen – oder umgekehrt.