
(als e-Book gelesen)
Das ist ein hervorragendes Buch. Es belegt ausführlich, lebendig, überzeugend und gut verständlich, d.h. ohne zeitgeistigen Jargon oder wissenschaftlich-soziologisches Kauderwelsch, dass die Menschheit, seit ihren Anfängen, immer besser damit gefahren ist, wenn sie offen war. Offen heisst in diesem Zusammenhang: aufgeschlossen gegenüber allem, also Menschen, Ideen,Gewohnheiten, Institutionen, also gegenüber allem, was innerhalb des Sicht- und Denkhorizontes der jeweiligen Zeit sicht- und greifbar wurde.
Das bedeutet nicht, dass Menschen das ihnen ‚bisher unbekannte Neue‘ kritiklos übernommen hätten, sondern dass sie es nicht a priori nach dem Motto «Was der Bauer nicht kennt, das frisst er nicht.» zurückgewiesen hätten. Offene Menschen und Gesellschaften sind dem für sie Neuen durchaus kritisch entgegengetreten, sie haben es mit dem ihnen Bekannten verglichen, die relativen Vor- und Nachteile gegeneinander abgewogen und schliesslich damit begonnen, mit dem, was sie für besser hielten, experimentiert, um es, wenn sich ihre Erwartungen erfüllten, zu übernehmen.
Die von Norberg propagierte und historisch von den Menschen praktizierte Offenheit lässt sich sehr schön mit Gottfried Keller beschreiben:
«Lasst uns am Alten,
so es gut ist halten,
doch auf altem Grund
Neues schaffen jede Stund.»
Norberg weist anhand zahlreicher Beispiele, die in sich selbst eine herrliche Nachhilfestunde in Geschichtskenntnissen bieten, nach, dass der Fortschritt der Menschheit eindeutig und direkt einer offenen Geisteshaltung zu verdanken ist, und dass alle Gesellschaften, die sich einigelten und gegenüber Fremdem abkapselten, schlussendlich verkümmerten und untergingen.
Für diejenigen, die den Gegensatz zwischen ‚offen‘ und ‚verschlossen‘ für synonym wie den zwischen ‚progressiv‘ und ‚konservativ‘ halten, bringt ein Zitat von Chesterton den Unterschied sehr deutlich und tiefgründig auf den Punkt (Kapitel 7, «Anticipatory Anxiety», e-Book Seite 448):
«The whole modern world has divided itself into Conservatives and Progressives. The business of Progressives is to go on making mistakes. The business of Conservatives is to prevent mistakes being corrected.»
Über die Richtigkeit oder Angemessenheit der Begriffe progressiv und konservativ kann man streiten. In jedem Fall konvergiert der Gedanke Chestertons mit Karl Poppers Analyse, dass Fortschritt praktisch immer ein Ergebnis kleiner Schritte und vor allem eines Vorgehens nach dem Prinzip ‚Versuch und Irrtum‘ und des klugen Daraus-Lernens ist.
Das Buch besteht aus zwei Teilen.
Im ersten Teil, ‚Open‘, behandelt Norberg die bisherige Geschichte des menschlichen Fortschritts, indem er zahlreiche historische Beispiele von Offenheit anhand der Kategorien ‚open exchange, open doors, open minds, open societies‘ eingehend untersucht und dokumentiert.
Im zweiten Teil, ‚Closed‘, setzt er sich mit den Kern-Charakteristiken geschlossener Systeme auseinander: ‚us and them, zero-sum, anticipatory anxiety, fight or flight‘. Auch hier illustriert er seine intellektuelle Analyse reichhaltig mit konkreten Beispielen und geschichtlichen Ereignissen. Das Gesamtbild ist eindeutig: Ge- oder Verschlossenheit führt ins Verderben; Offenheit und Aufgeschlossenheit sind Garanten für Fortschritt, Wohlstandsvermehrung und Steigerung der Lebensqualität (Bildung, Gesundheit, kulturelle Leistungen, etc,) von Gesellschaften.
Das Kapitel ‚Open or Closed‘ (e-Book Seiten 567ff) bildet gewissermassen die Synthese der beiden Hauptteile. Norberg setzt sich darin auch damit auseinander, dass es nicht nur den Gegensatz zwischen offen und geschlossenen Gesellschaften gibt, sondern dass auch innerhalb jeder dieser Gesellschaften innere Konflikte zwischen zu Offenheit beziehungsweise Geschlossenheit neigenden Strömungen gibt.
Norberg vertritt klar und eindeutig die Sache der Offenheit. Er betont aber auch, dass die Offenheit einer Gesellschaft nicht vom Himmel fällt, sondern immer wieder erkämpft und verteidigt werden will.
Ich halte dieses Buch für enorm wichtig. Ich werde es zukünftig in Diskussionen über Fortschritt, über ideale Gesellschaftsformen, über Globalisierung oder dergleichen immer im Hinterkopf behalten. Allfällige Kontrahenten werde ich immer wieder daran erinnern, dass es nicht darum gehen kann, die Frage ‚offen oder geschlossen‘ ideologisch oder mit teleologischen Vorurteilen anzugehen, sondern dass
- eine fundierte Kenntnis der bisherigen Entwicklung der Menschheit,
- eine Anerkennung der faktischen Unterschiede zwischen offenen und geschlossenen Systemen, sowie
- eine ehrliche Auseinandersetzung mit der Frage «grosses Design und Engineering der Gesellschaft versus Entwicklung per ‚trial and error‘»
eine Grundvoraussetzung für einen fruchtbaren Dialog sein müssen. Norbergs Buch könnte dabei ein äusserst nützliches Werkzeug sein.
Wo ich diese Voraussetzung als nicht gegeben sehe, halte ich jeden Dialog für sinnlos.