Nutshell

Nutshell
Ian McEwan, 2016-25

McEwans neuster Roman (2016) Nutshell erzählt die Geschichte eines Paars – von ihrem Ehemann getrennt lebende Ehefrau mit Geliebtem, welcher der Bruder des Ehemannes ist –, das den Ehemann der Frau, umbringen will, und auch tatsächlich umbringt. Das Besondere an der Geschichte ist, dass sie aus der Perspektive eines Babys erzählt wird, das – im neunten Monat – noch im Bauch der Frau steckt.

Das Ganze ist eine Kopfgeburt, denn das Baby hat ein voll entwickeltes Bewusstsein, ist äusserst gebildet und reflektiert über die Menschen und die Gesellschaft, über Gut und Bös, über das Schicksal unseres Planeten, über alles, was McEwan lieb und teuer ist, und zwar in einer Art und Weise, die für McEwan typisch ist: dem Zeitgeist gleichzeitig verhaftet und feindlich, kritisch und zustimmend, freundlich und sarkastisch. Dieser Spagat zwischen der Erfahrung eines Babys (wenn es denn ohne ein entwickeltes Bewusstsein so etwas überhaupt gibt) und der Weltanschauung eines McEwan ist leider völlig unglaubwürdig und keine tragfähige Grundlage für einen Roman. Der Autor hat sich hier in einer Konzeptidee, nämlich eine Geschichte aus der Perspektive eines Babys zu erzählen, total verrannt.

Die Vorgänge, die sich in den Köpfen des mörderischen Paars und des gehörnten Ehemanns abspielen, sind in gewohnt souveräner McEwan’scher Art packend und empathisch geschrieben. Auch der Plot, der eigentliche Krimi, zieht einen von der Idee zum Mord bis zum spannenden und überraschenden Ende in den Bann – eben ein echter McEwan.

Das Buch liest sich leicht, setzt aber einen ziemlich grossen Wortschatz und viel intime Kenntnis der aktuellen Zeitgeschichte voraus, sonst geht vieles vom Geistreichen und Anregenden, das McEwan dem Baby in den Kopf legt, verloren.

Ich verweise alle (sofern es überhaupt je jemanden gibt), die diese Reflexionen lesen und meine Beurteilung überprüfen möchten, für eine Leseprobe auf die Seiten 25 – 29 (Hardcover-Ausgabe, Penguin House, 2016). Sie mögen selbst beurteilen, ob diese Sicht auf den ‚state oft he world’ und das Gegenstück ‚Why trust this account?’ eine adäquate McEwan’sche Grundlage für eine zynische und gleichzeitig menschlich nachvollziehbare Grundlage für eine Geschichte über die selbstzerstörerischen Kräfte von Anziehung und Abstossung, von Hass und Liebe, von Selbstsucht und  Grosszügigkeit innerhalb eines Personendreiecks sein können.

Postscriptum:

Dank den Buchbesprechungen, die aus Anlass der Verfügbarkeit der deutschsprachigen Ausgabe (unter dem Titel «Nussschale» am 26. Oktober 2016 erschienen) erschienen sind, weiss ich jetzt, dass das Buch eine verschlüsselte Variation – oder Persiflage – auf den Shakespeare’schen Hamlet ist. Dabei ist der Fötus Hamlet, seine Mutter Trudy ist Gertrude, Hamlets Mutter, ihr Liebhaber Claude ist natürlich Claudius. Und diese beiden, Trudy und Claude, wollen Hamlets Vater umbringen.

Die Tatsache, dass Leserinnen und Leser auf diesen literarischen Bezug aufmerksam gemacht werden müssen, zeigt, dass der Bezug nicht offensichtlich, sondern eher sehr künstlich ist und gekünstelt wirkt.

Zur Illustration der Würdigung des Romans durch die professionelle Kritik folgen die beiden Besprechungen der NZZ und des TA, welche die Neuerscheinung würdigten. Die NZZ-Würdigung ist in ein Interview mit dem Autor vrepackt.

NZZ, 26. Oktober 2016:

Weltsicht eines Fötus

Der neue Roman des britischen Autors Ian McEwan

Mit «Nussschale» wirft der Schriftsteller Ian McEwan einen düsteren Blick aus dem Mutterleib auf die Welt.

vil. Gab es das schon? Der Protagonist und Erzähler von Ian McEwans neuem Roman «Nussschale» – der heute Mittwoch erscheint – ist ein Fötus. Er sei «pure Existenz», sagt der britische Erfolgsschriftsteller im Interview mit der NZZ. Das eröffnet dem Autor die Möglichkeit, seine namenlose Figur, fast nur eine Stimme, in Monologform darüber reflektieren zu lassen, was von ausserhalb in den Mutterleib dringt: unsere heutige Welt. Über diese Welt äussert sich McEwan nicht gerade optimistisch: «Wir können nur spekulieren, ob wir ohne einen nuklearen Schlagabtausch durch dieses Jahrhundert kommen.» Auch andere gefährliche Szenarien evoziert er – nebst den Folgen des Klimawandels nicht weniger als den «allmählichen Kollaps einer regelgebundenen Weltordnung». Der Schriftsteller McEwan zeigt sich als klarer Brexit-Gegner. Er erläutert diese Position mit seiner Einschätzung der Europäischen Union als einer der «heroischsten und brillantesten Errungenschaften unserer Geschichte». Und er kritisiert die Politik seines Landes: Nach dem Referendum sei die Bevölkerung behandelt worden wie Domestiken aus der TV-Serie «Downton Abbey».

 

«Grossbritannien ist ein Einparteistaat»

Interview:

Ian McEwan spricht über seinen neuen Roman, Europas moralischen Zwiespalt und England nach dem Brexit

Die beängstigenden Zeitläufte betrachtet Ian McEwan in seinem neuen Roman aus besonders unorthodoxer Perspektive.

Auf den ersten Blick handelt Ihr neuer Roman von Liebe, Habgier und Mord und wirkt so konventionell wie ein beliebiger Krimi, so vertraut wie «Hamlet» und «Macbeth» – Dramen, auf die sich «Nussschale» bezieht. Was den Roman aussergewöhnlich macht, ist der Erzähler. Weshalb haben Sie aus der Perspektive eines Fötus erzählt?

Weshalb tun wir überhaupt irgendetwas? Man hat eine Idee, die hervorsticht, und fragt nicht einmal, weshalb sie einen besonders fasziniert. Man erkennt lediglich, dass sie mit einem bestimmten Potenzial schwanger geht. «So, hier bin ich, kopfüber in einer Frau»: Den ersten Satz des Romans habe ich unverändert aus einem meiner Notizbücher übernommen. Ich war von den Herausforderungen angezogen, die er an mich stellte. Mein Erzähler hat keinen Namen, keine Religion. Er ist reine Existenz. Er hört, was ausserhalb des Mutterleibs geschieht, ist Zeuge der intimsten Momente im Leben seiner Mutter und reflektiert all dies in einem Monolog, der nicht nur von Shakespeares Sprache durchdrungen ist, sondern vom ganzen Kanon englischer Lyrik.

Inwiefern ist er trotz seiner Isolation «ein Kind zur Zeit», um den Titel Ihres 1987 erschienenen Romans zu zitieren?

Als Fötus gleicht er eher dem Geist von Hamlets Vater, der noch nicht weiss, ob er in den Himmel oder in die Hölle kommen wird. Aber er glaubt zweifellos an ein Leben nach der Geburt.

Er beansprucht ein Leben mit allen «Vorzügen der Moderne». Welches waren die Geburtsrechte Ihrer Ende der vierziger Jahre geborenen Generation?

Im England der Nachkriegszeit wurde ich in eine Zeit der Entbehrungen hineingeboren; dennoch kann sich meine Generation glücklich schätzen, Nutzniesser eines langen Zeitraums des Friedens, des zunehmenden Wohlstands und der sich ausweitenden Bildungsmöglichkeiten gewesen zu sein. Aber meine Generation hat ihr Glück nie als «Geburtsrecht» empfunden. Man kann sich nur glücklich schätzen, wenn man, wie der Erzähler meines Romans, der Aussicht auf eine Geburt im friedlichen Westeuropa entgegensieht und nicht in einem vom Krieg erschütterten Syrien oder im von Hungersnot betroffenen Somalia.

Inzwischen scheinen sich die Verhältnisse allerdings auch in Europa zu wandeln.

Kürzlich las ich eine Statistik, die belegt, dass Leute, die heute in ihre Dreissiger eintreten, ein deutlich geringeres Einkommen haben als wir zu unserer Zeit. Dabei waren wir stets der Überzeugung gewesen, dass unsere Kinder wohlhabender sein würden als wir und über einen grösseren Spielraum an Möglichkeiten verfügen könnten.

Können Sie sich die Geschichte des 21. Jahrhunderts vorstellen, deren Zeitzeuge Ihr Erzähler werden wird?

Er kommt 2015 zur Welt und wünscht sich, als 85-Jähriger den letzten Tag des 21. Jahrhunderts zu erleben. Wir können nur spekulieren, ob wir ohne einen nuklearen Schlagabtausch durch dieses Jahrhundert kommen. Es liegt in der Natur intellektuellen Denkens, eher pessimistisch zu sein. Wir können aber eine ganze Reihe gefährlicher Szenarien betrachten – nicht nur die Folgen des Klimawandels, den ich an erste Stelle setze, sondern den allmählichen Kollaps einer regelgebundenen Weltordnung.

Wo machen Sie solche Tendenzen aus?

Gegenwärtig etwa in Russlands Teilnahme an der Bombardierung Aleppos. Wir haben es hier mit einem Land zu tun, welches danach strebt, eine Weltmacht zu werden, statt Regeln zu verteidigen, die den Frieden sichern; einem Regime, das Bomben einsetzt, die den Menschen so viel Schaden wie nur möglich zufügen. Wir müssen uns also über den selbstgefälligen Hohn Russlands Sorgen machen. Hinzu kommen der internationale Terrorismus, die Tragödie der Migration.

Von der politischen Gegenwart erfährt Ihr Erzähler allein durchs Radio. Verkörpert er den von Luhmann beschriebenen Typus des modernen Menschen, der sein Wissen über die Gesellschaft und die Welt einzig den Massenmedien verdankt?

Natürlich basiert wenig von dem, was wir über die Welt wissen, auf eigener Erfahrung, und wir müssen uns vorsehen, nicht im Sumpf eines endlosen relativistischen Denkens zu versinken. Wie mein Fötus betont, könnte man aus dem Spektrum der Informationen, denen man ausgesetzt ist, jedes denkbare Weltbild formen, indem man nur das zur Kenntnis nimmt, was man hören will. Ähnlich scheint es übrigens auch einigen Lesern von «Nussschale» zu ergehen: Die rein literarischen Leser erkennen zwar die Anspielungen auf «Hamlet» und die englische Lyrik, übersehen aber meist die Bezüge zur kognitiven Psychologie und zu den aktuellen Theorien zur Evolution des Bewusstseins, die in den Monolog meines Erzählers eingeflossen sind.

Ihr Erzähler scheint mir kaum weniger selbstsüchtig als die Mörder seines Vaters, wenn er sich schon vor der Geburt wegen seines sozialen Status sorgt. Ist Habgier Bestandteil der menschlichen DNA?

Mein Erzähler hat Angst, verlassen zu werden. Angst, dass seine Mutter ihn nicht liebt und sein Vater, dessen Tod er gern verhindern würde, ihn irgendwie vergessen haben könnten. Er ist ein existenzialistischer Held. Sein Plan ist es, seine Mutter nach der Geburt so sehnsuchtsvoll anzublicken, dass er ein Band der Liebe schafft und sie nicht mehr in der Lage ist, ihn zu verstossen.

«Während Radio und Fernseher plärren, gehen die Leute weiter ihren Beschäftigungen nach» – so Ihr Erzähler. Warum diese Passivität angesichts des unerträglichen Leids, von dem wir täglich hören?

Das Private ist das, was für jeden von uns die grösste Realität hat. Man mag von den schrecklichen Tragödien hören, die sich auf der Welt ereignen, aber dennoch werden unsere eigenen unmittelbaren Umstände immer von grösserer Bedeutung bleiben, selbst wenn wir anerkennen, dass jedes Leben denselben Wert hat.

Worin liegt das Dilemma eins Europas, das angesichts der Flüchtlingskrise «zwischen Mitleid und Furcht» schwankt, wie Ihr Erzähler sinniert? Eines Europas, das helfen, aber nicht teilen oder verlieren will, was es hat?

Wir alle erinnern uns an die Foto eines türkischen Polizisten, der ein ertrunkenes Flüchtlingskind in den Armen hält. Diese Foto traf jeden, der es sah, mitten ins Herz und gab uns das Gefühl, etwas unternehmen zu müssen, um diesen Menschen in ihrer tragischen Situation zu helfen. Aber ein paar Wochen später hatte sich die Wirkung der Foto bereits abgenutzt, und andere Ereignisse, etwa die sexuellen Übergriffe der Silvesternacht in Köln, führten dazu, dass dieselben Herzen sich verhärteten. Ich habe versucht, im Roman diese Pole zu beschreiben, zwischen denen Europa pendelt, diesen Jo-Jo-Effekt, der den Umgang mit der Flüchtlingskrise bestimmt, die Europa überrascht zu haben scheint.

War diese Entwicklung denn absehbar?

Ich erinnere mich, schon vor zwanzig Jahren über die «Festung Europa» gelesen zu haben. Über das, was geschehen wird, wenn sich in Nordafrika eine Flüchtlingswelle formiert und eine halbe Milliarde Menschen, die sich in Europa ein besseres Leben erhoffen, sich auf den Weg machen werden.

Welches sind die Urängste, die gegenwärtig in Europa aufleben?

Ich fürchte die Zunahme eines fremdenfeindlichen Nationalismus und den Zusammenbruch der Europäischen Union. Die Auflösung dessen, was meines Erachtens trotz allen Schwächen, demokratischen Defiziten und der labyrinthischen Bürokratie eine der heroischsten und brillantesten Errungenschaften unserer Geschichte ist. Angesichts der europäischen Geschichte, nicht allein des zwanzigsten Jahrhunderts, sondern einer Geschichte, die seit dem Dreissigjährigen Krieg immer neue Grausamkeiten gesehen hat, ist uns etwas Aussergewöhnliches gelungen.

Können Sie sich erklären, warum diese Errungenschaft jetzt aufs Spiel gesetzt wird?

Vielleicht haben wir uns zu sehr daran gewöhnt, begannen uns damit zu langweilen und haben es schliesslich zum Sündenbock für alles gemacht, was schiefgegangen ist. Und jetzt beobachten wir kleine dunkle Winkel des Abscheulichen, das uns neu und zugleich sehr vertraut erscheint.

Erleben wir die schon vom Erzähler Ihres 1992 erschienenen Romans «Schwarze Hunde» prophezeite abermalige Heimsuchung Europas durch das Böse?

Ich habe tatsächlich Angst, dass das der Fall sein könnte. Dass die «schwarzen Hunde» zum Beispiel in Gestalt einer rechtsextremen Partei wie der Jobbik in Ungarn zurückkehren könnten. Selbst die harmlose Scottish National Party, die ich wirklich keinen einzigen Augenblick als Partei der Neonazis wahrnehme, passt ins Muster jener kleinen, eigennützigen Splittergruppen und der überkommenen, aus dem 19. Jahrhundert stammenden Vorstellungen von nationaler Identität, die diese Dämonen, die irgendwo in Europa lauern, abermals heraufbeschwören könnten. Hier in England hatten wir es gerade mit Antisemitismus-Vorwürfen innerhalb der Labour Party zu tun. Es ist wie mit Bakterien, die lediglich die richtigen Nährstoffe benötigen, um sich zu vermehren.

«Wir können nicht mehr tun, als am Küchentisch sitzen und tratschen», schrieben Sie nach dem Brexit-Referendum: «Der Butler hat eine Theorie und ebenso das zweite Zimmermädchen.»

Nach dem Referendum hat die britische Politik die Bevölkerung behandelt, als wären wir die Domestiken in «Downton Abbey.»

Wovon handelt die aktuelle Folge Ihrer nationalen Soap, nun, da die Konsequenzen des Entscheids spürbar werden und das britische Pfund sich auf einem Tiefstand befindet?

Ich habe manchmal nach wie vor das Gefühl, dass der Brexit doch noch abzuwenden wäre. Die britische Forderung, Zugang zum EU-Binnenmarkt zu erhalten, ist mit der Abschottung gegen den freien Personenverkehr nicht zu vereinbaren.

Auf der politischen Bühne dominiert allerdings einstweilen der Gedanke an einen «harten» Brexit.

Das trifft zu. Die momentane Stimmung scheint dahin zu gehen, dass wir auf den Zugang zum Binnenmarkt verzichten, um die Zuwanderung einzugrenzen. In diesem Fall würden wir sehr schwierige ökonomische Verhältnisse erleben, aus denen wir uns vielleicht in zwanzig Jahren wieder herausgearbeitet haben. Es besteht die Gefahr, dass die Körperschaftssteuer gesenkt und Grossbritannien ein neues Steuerparadies wird. Unmittelbar nach dem Referendum hatte ich das Gefühl, als Bürger völlig machtlos zu sein. Wie bereits angetönt – wir fühlten uns wie Dienstboten, die lediglich den Schritten der Regierung über ihren Köpfen lauschen können.

Ein Musterbeispiel für die «Kunst schlechter Regierung», wie es in «Ein Kind zur Zeit» heisst.

Inzwischen ist Grossbritannien ein Einparteistaat, da sich die Opposition in Aufruhr und in einem Zustand der Zerrissenheit befindet. Teil des Problems ist unsere Parteipresse, die in ihren jeweiligen Lagern kämpft und der britischen Bevölkerung in den vergangenen fünfunddreissig Jahren eingetrichtert hat, die Europäische Union sei ein verrücktes Bündnis, in dem Bürokraten in Brüssel diktierten, dass Bananen gerade und Tomaten viereckig zu sein hätten. Sollte die EU zerbrechen, werden wir in dreissig Jahren auf ein goldenes Zeitalter zurückblicken und bereuen, dass ein Gewöhnungsprozess und monströse Torheit dazu führten, dass wir versäumten, sie zu verteidigen.

Ist Grossbritannien durch den Brexit gezwungen, ein anderes nationales Narrativ zu erfinden als jenes, das in Serien wie «Downton Abbey» immer wieder aufs Neue verbreitet wird?

Ich glaube, dass es sich beim Brexit um die Fortsetzung einer alten Story handelt. Der Zweite Weltkrieg war für Grossbritannien ein Augenblick des Triumphs und der Tugendhaftigkeit. Ganz Europa war besetzt oder lag in Schande, aber Grossbritannien war ohne Schande, war gut und edel. Anders als die Niederlande und Belgien waren wir nicht besetzt, anders als das französische Vichy-Regime hatten wir nicht mit Nazideutschland kollaboriert. Anders als Deutschland hatten wir keinen Holocaust verschuldet. Grossbritannien war unschuldig und hat sich die Unschuld seitdem bewahrt. Dies ist ein sehr starkes nationales Narrativ und erklärt, weshalb Grossbritannien nie wirklich Teil des Europäischen Projekts war, das aus den Trümmern des Zweiten Weltkriegs entstanden ist.

Aber das Land hat sich 1973 trotzdem der damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft angeschlossen.

In den Siebzigern war die britische Wirtschaft in einer so schlechten Verfassung, dass es schien, als sei Europa die Zukunft, aber nun besinnt sich das Land auf die Geschichte, die es sich seit Ende des Zweiten Weltkriegs erzählt. Ich würde eine direkte Linie zwischen unserem Triumph von 1945 und dem ziehen, was wir jetzt erleben. Wir waren damals allein und werden das auch in Zukunft sein. Britannien hat seit 1066 keine Invasion erlebt, also wähnt es sich im Glauben, auch heute in Europa eine Ausnahme sein zu können. Das ist die alte Fiktion, die nun ihre Fortsetzung erlebt.

Dieser Gedanke der Fortschreibung einer überlieferten Story bringt mich zurück zu «Nussschale». Dort reitet Ihr Erzähler in einem Traum ins historische London und begegnet dabei einem Mann, der ihn um die Meinung zu einer Geschichte bittet, die er verfasst hat. Um wen handelt es sich?

Der Roman lässt die Frage offen, aber ich nehme an, es handelt sich um Christopher Marlowe – und dass wir es bei meinem Fötus tatsächlich mit Shakespeare zu tun haben, der darauf wartet, wiedergeboren zu werden. Das würde auch erklären, weshalb er so allwissend ist und bisweilen in jambischen Pentametern spricht. Das Letzte, was ich tun würde, ist, mich dem Glauben an eine Wiedergeburt zu verschreiben, aber auf eine spielerische Weise wollte ich zum Ausdruck bringen, dass es sich bei meinem Erzähler um niemand Geringeren als William Shakespeare handelt, der einem neuen Leben entgegensieht.

Interview: Thomas David

Ian McEwans neuer Roman «Nussschale» erscheint heute in der Übersetzung von Bernhard Robben beim Diogenes-Verlag. 288 S., Fr. 30.–.

 

Tagesanzeiger, 26. Oktober 2016

Hamlet, pränatal

Heute erscheint Ian McEwans neuer Roman «Nussschale». Erzähler ist ein unmöglicher Held: ein Fötus, der im Mutterleib über die Welt nachdenkt und einen Mord verhindern will. Ein furioses Lesevergnügen.

Martin Ebel

«So, hier bin ich, kopfüber in einer Frau.» Wer spricht da? Ein Erzähler, wie es ihn in der Literaturgeschichte noch nicht gegeben hat. Weil jeder Autor bisher einen solchen Einfall schnell wieder verworfen hätte. Ian McEwan aber hat aus der, wie er selbst fand, «unwiderstehlich albernen Idee» einen Roman gemacht. Einen Roman, erzählt von einem Fötus im Mutterleib, kurz vor dem Geburtstermin. Einem Fötus, der nicht wie in Charles Lewinskys «Andersen» – welch merkwürdige Koinzidenz! – erst allmählich zu Bewusstsein kommt und auf das Vorwissen einer früheren Existenz zurückgreifen kann. Nein, McEwans Held wartet im Vollbesitz geistiger Kräfte auf seinen Eintritt in die Welt.

Der Autor leistet sich ein paar Rationalisierungen – die Mutter hört eifrig Radio und Bildungs-Podcasts –, aber das sind eher Pirouetten für plausibilitätsfixierte Leser. «Realismus soll keine Beschränkung sein», ermutigt der Held sich selbst: «Löse die Fesseln, gebe die Gedanken frei.» Der Roman gewinnt seinen Reiz gerade aus dem Gegensatz von äusserer Beschränkung – der Held ist nahezu bewegungslos, vollkommen von seiner «Austrägerin» abhängig, von der Aussenwelt abgeschottet – und innerer Souveränität. Nicht «Kann das sein?» soll der Leser fragen, sondern «Kann das klappen?», literarisch.

Es klappt, frappierend und grandios. Allerdings muss man den Spass, den der Autor ganz offensichtlich beim Konstruieren dieser Unmöglichkeit, beim Umschiffen vordergründiger Logik-Klippen und beim Spiel mit Genres und einem grossen Vorläufer hatte, nachvollziehen, nachschmecken und geniessen können.

«Nussschale» ist nämlich auch eine kuriose, quasi pränatale Hamlet-Adaption, die sich um einen Krimi-Plot rankt. Die Mutter des noch namenlosen Fötus – wollen wir ihn nicht Hamlet nennen? – heisst Trudy (Gertrude), ihr Liebhaber Claude (Claudius). Gemeinsam wollen sie Trudys Mann, Hamlets Vater und Claudes Bruder, umbringen.

Das Motiv ist Habgier

Das Motiv ist weniger Sex, obwohl sie es ständig miteinander treiben, sondern Habgier: Es geht um eine 7 Millionen Pfund schwere Londoner Immobilie. Der Icherzähler hört vom Mordplan, verfolgt die Vorbereitungen und die Umsetzung. Und kann nichts tun. Nicht den Vater warnen, nicht die Mutter hindern. Ihn lähmt nicht nur die offensichtliche physische Unmöglichkeit einzugreifen, sondern auch, wie den «grossen» Hamlet», der Antagonismus von Motiven und Interessen.

Natürlich hasst er den Onkel, einen schlauen Primitivling, der nur in Klischees spricht (und denkt). Natürlich wirft er der Mutter vor, seinen Vater, einen edlen Blässling, erfolglosen Lyriker und Kleinverleger, gegen diesen groben Dummkopf eingetauscht zu haben. Aber er liebt sie natürlich – ist er nicht ein Teil von ihr? Eigentlich möchte er, dass der Mord gesühnt, der Vater gerächt, das Pärchen gefasst wird. Aber was wird dann aus ihm? Kommt er ins Heim oder in eine Pflegefamilie aus der Unterschicht? Wer nicht handeln kann, muss denken – und reden, und das tut der pränatale Hamlet ununterbrochen, vom ersten bis zum letzten Satz, welcher lautet: «Der Rest ist Chaos.»

Selten hat man eine solch vergnügliche Lesezeit mit einer Romanfigur verbracht wie mit diesem erfahrungslosen, aber fast allwissenden Subjekt in dessen letzten Schwangerschaftstagen. Wie im Shakespeare-Motto erklärt unser Hamlet die Nussschale seiner physischen Existenz zu einem «unermesslichen Gebiet», in dem er als König herrscht. Dieses Gebiet ist der Geist, und der erklärt ihm alles, was er registriert, und der ersetzt ihm alles, was ihm an Sinnesreizen noch vorenthalten bleibt. Dieser Fötus zitiert Konfuzius und Roland Barthes, er entwirft, in Folge aufmerksam registrierter Radiovorträge, zwei Visionen der Aussenwelt – die eine von Klimakatastrophen, Kriegen, Krisen und Flüchtlingsströmen gepeinigt, die andere in einem nie da gewesenen Zivilisationshochstand und Wohlstand schwelgend.

Einmal leitartikelt er regelrecht: Da lässt McEwan seinem Sarkasmus über den Genderwahn und die Identitätspolitik freien Lauf – «71 verschiedene Geschlechter», weiss er, bietet ein grosses Netzwerk auf seiner Website an, «Neutrois, Two-Spirit, Bigender», und heute kann sich jeder zu dem erklären, der er sein will. Und verletzt, gekränkt, aggressiv beleidigt reagieren. So wie sich der Autor selbst mit dem unschuldigen Satz: «Nennen Sie mich altmodisch, aber die meisten Menschen mit einem Penis sind Männer» einen Shitstorm einhandelte, als hätte er Hitler gelobt.

Intelligente Erzähler sind ein Genuss. Dieser ist äusserst intelligent und so formulierungsstark wie eben einer der besten Autoren unserer Zeit. Unser Hamlet ist ausserdem ein vorgeburtliches Genie der Sinne. Was er nicht sehen kann, stellt er sich vor – meist intensiver, als jede Realität wahrgenommen wird. Was er spüren kann, übersetzt er wiederum in Bilder von wunderbarer Schönheit.

Einmal isst die Mutter einen eingelegten Hering mit Gurke und Zitrone. «Das braucht nicht lange, bis es bei mir ankommt. Eine scharfe Essenz, salziger als Blut, ein Hauch ozeanischer Gischt von jenen breiten, offenen Meeresstrassen, durch deren klare, schwarze, eisige Fluten Heringsschwärme einsam nordwärts ziehen. Und es kommt immer heftiger, eine frostige arktische Brise, die mir ins Gesicht bläst, als stünde ich kühn am Bug eines furchtlosen Schiffes, das glazialer Freiheit entgegenstampft. Soll heissen: Trudy isst ein belegtes Brot nach dem anderen.»

Regelrechte Sinnesekstasen löst Trudys (beträchtlicher und kennerischer) Weinkonsum aus. «Womöglich haben Sie es längst vergessen oder noch nie erlebt, wie herrlich ein durch die Plazenta dekantierter Burgunder schmeckt»: In solchen Sätzen springt einem die geradezu närrische Freude des Autors entgegen, machen zu können, was er will – selbst einen Fötus zum Wein-Connaisseur –, wenn es derart elegant, spielerisch, selbstironisch und selbstreflexiv zur Sprache kommt.

Köstlich etwa die regelmässige Ansprache an den Leser, der Verweis auf vermeintliche gemeinsame Erfahrungen auch unangenehmer Art: «Nicht jedermann weiss, wie es ist, den Penis des Rivalen seines Vaters nur wenige Zentimeter vor der eigenen Nase zu haben.» Da gibt es einen Anflug echten Entsetzens: Könnte der nächste Kolbenhub des verhassten Onkels nicht die hauchdünne Membran durchstossen, «meinen weichen Schädel aufspiessen und meine Gedanken mit seiner Essenz besamen, mit der quirligen Sahne seiner Banalität?»

Feuerwerk an Witz und Geist

Kurz: Was Ian McEwan aus der «unwiderstehlich albernen Idee» gewinnt, ist ein Feuerwerk an Witz und Geist, eine Kaskade aus originellen Wendungen und berauschenden Bildern. Die reine Freude – ungetrübt von der Frage, was damit eigentlich bezweckt werden soll. Wahrscheinlich nichts – ausser dem Autor ein Schreib- und dem Leser ein Lesevergnügen zu bereiten.

Wie gehts aus? Bei Shakespeare sind am Ende alle tot. Hier bleibt es bei dem einen Opfer. Hamlet strebt, nach einem halbherzigen Versuch, sich selbst mit der Nabelschnur zu erdrosseln, ans Licht der Welt. Er will das 21.Jahrhundert erleben, die Zukunft! Wird sie apokalyptisch sein? Oder kriegt die Menschheit die Kurve? «Wird der Islam eines seiner fieberheissen Gliedmassen in den kühlenden Weiher der Reformation tunken?» Das ist alles zu spannend, um es nicht miterleben zu wollen. Und was wird aus Klein Hamlet selbst? Wir vermuten: Bei dieser Begabung wird er ein Dichter werden.

Ian McEwan: Nussschale. Roman. Aus dem Englischen von Bernhard Robben. Diogenes, Zürich 2016. 276 S., ca. 27 Fr.

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