
Der Untertitel dieses kompakten Buchs lässt Leserinnen und Leser erwarten, dass sie ein weiteres Buch voller Hype über AI, Singularität und Beherrschung der Menschen durch künstliche Wesen, die intelligenter sind als sie selbst, vor sich haben.
Die Erwartung wird zunächst enttäuscht, und dann noch übertroffen.
James Lovelock, Engländer, 2019 bei bester Gesundheit hundertjährig geworden, ist ein verspäteter Universalgelehrter. Er besitzt Abschlüsse in Chemie, Medizin und Biophysik. Erstmals wurde er bekannt, weil er mit der Erfindung eines Elektronen-Einfangdetektors ermöglichte, die Verbreitung von FCKW in der Erdatmosphäre zu messen und damit einen wesentlichen Beitrag zur Rettung der Ozon-Schicht leistete. Als Mitbegründer der Gaia-Theorie wurde er in den 1970-er Jahren einer breiten Öffentlichkeit bekannt. Gemäss Wikipedia besagt die Gaia-Hypothese, «dass die Erde und ihre Biosphäre wie ein Lebewesen betrachtet werden können, da die Biosphäre (die Gesamtheit aller Organismen) Bedingungen schafft und erhält, die nicht nur Leben, sondern auch eine Evolution komplexerer Organismen ermöglichen. Die Erdoberfläche bildet demnach ein dynamisches System, das die gesamte Biosphäre stabilisiert. Diese Hypothese setzt eine bestimmte Definition von Leben voraus, wonach sich Lebewesen insbesondere durch die Fähigkeit zur Selbstorganisation auszeichnen.»
Als ,Novacene’ bezeichnet Lovelock das Zeitalter, das dem Anthropozän folgt und bereits begonnen hat. Für ihn ist klar, dass die AI zwangsläufig zu ,Wesen’ führt, die in mancher Hinsicht um Grössenordnungen intelligenter und schneller sind als Menschen. Er sieht diese ,Cyborgs’ (so nennt er seine ,Wesen’) jedoch nicht als Widersacher der Menschen, sondern als zunächst Ko-Lebewesen, die wie die Menschen in erster Linie nur ein Interesse haben, nämlich auf der Erde diejenigen Lebensbedingungen zu erhalten, die Menschen und Cyborgs benötigen. Die Cyborgs werden also in Lovelocks Sicht zu einem festen Bestandteil des komplexen, dynamischen Systems ,Gaia’. Für ihn sind Cyborgs zwar ursprünglich ,Kinder’ oder Nachkommen von uns Menschen – aber sie werden uns beherrschen und sich wie andere Lebewesen nach den Gesetzen der Evolution weiter entwickeln und möglicherweise, wenn einmal die Lebensbedingungen auf dem Planeten für organische Wesen, inklusive uns Menschen, unerträglich sein werden, die einzigen sein, welche das Erbe der bisherigen Evolution, nämlich unser Wissen über den Kosmos und die Natur, weiter pflegen und entwickeln werden.
Er glaubt, dass diese Ko-Existenz von Menschen und Cyborgs bereits Ende des 21. Jahrhunderts Wirklichkeit sein und einen wesentlichen Beitrag zur Erhaltung eines erträglichen, ,kühlen’ Erdklimas leisten wird. Über irgendwelche Technicalities, wie es denn dazu kommen könnte, lässt er sich allerdings – zum Glück – nicht aus.
Lovelocks Vorstellung ist gewiss poetisch und potentiell verheissungsvoll – allein mir fehlt der Glaube.
In einem sachlichen Punkt halte ich Lovelocks Theorie für falsch. Er sieht die Erfindung der Dampfmaschine durch Thomas Newcomen als Beginn des Anthropozän. Den Beginn der Nutzung der Kohle als Brennstoff hält er für so monumental, dass die globale Veränderungen, die dadurch ausgelöst wurden, erst die Qualifikation ,Anthropozän’ verdienen. Ich würde den Beginn der global wirksamen Einflussnahme der Menschen auf die Gestaltung des Planeten eher beim Beginn der Sesshaftigkeit ansetzen. Denn dort liegen die Wurzeln der Landwirtschaft, der arbeitsteiligen Bewirtschaftung der Lebensgrundlagen, der Gründung von Städten, der Erfindung der Schrift – die eigentlichen Wurzeln unserer Zivilisation.
Letztlich ist das jedoch ein Nebenkriegsschauplatz. Im Zentrum des Buchs steht die friedliche und produktive Ko-Existenz und Kooperation von Mensch und Cyborgs, welche nur gemeinsam die Lebensgrundlagen für organisches Leben auf dem Planeten erhalten können (wenigstens für eine gewisse, endliche Zeit), und – darüber hinaus – die Evolution unserer AI-Kreationen zu Organismen, welche sich verselbständigen und eines Tages, wenn die stets wärmer werdende Sonne organisches Leben auf der Erde verunmöglicht, als einzige überleben und gedeihen können. Er sieht in dieser Perspektive nicht primär eine Katastrophe, sondern lediglich die Weiterführung eines evolutionären Pfades, der auch in den Billionen von Jahren der Geschichte unseres Planeten immer wieder zu Untergang und neuem Werden geführt hat.
Lovelock denkt sein Konzept des lebenden Organismus ,Gaia’ konsequent zu Ende und lässt damit den grassierenden AI-Hype weit hinter sich.