
Der Held dieses rund 500-seitiges Romans, Roland Baines, ist ein Mensch, der für seine Zeit (zweite Hälfte des 20. und Beginn des 21. Jahrhunderts) untypisch, aber dafür ziellos und zügellos antriebsfrei durchs Leben taumelt. Dieses Leben beginnt mit einer behüteten Kindheit in Libyen in einer englischen Familie, deren Vater als Soldat der englischen Armee im Auslandeinsatz ist. Es setzt sich in England im Internat fort, erfährt mit dem Abbruch der Ausbildung vor dem Erreichen der A-Levels (Voraussetzung für ein Universitätsstudium) eine erste kritische Wendung. Baines‘ 20-erjahre bestehen aus einer Folge von erratischen und abenteuerlichen hippie-esken Auslandaufenthalten, deren Finanzierung nur mit Hilfskraft-Einsätzen ermöglicht wird, aber stets den Ruin streift. Roland Baines findet schliesslich mit etwa 30 Jahren seinen Ruhepol in einem kleinen, von Anfang an baufälligen Mittelklassehäuschen im Grossraum London. Dort lebt und treibt er vor sich hin, verdient seinen Lebensunterhalt mit Gelegenheitsjobs, mit Tennisstunden und als Barpianist (nachdem er noch im Internat als pianistisches Wunderkind galt). Er schleppt seine allerdings schwach ausgeprägten Ambitionen (Tennis-Crack, Poet oder Starpianist) irgendwie im Hinterkopf mit sich herum, jedoch ohne jede Anstrengung, sie auch tatsächlich zu erreichen, gewissermassen wie eine Erinnerung, dass doch da mal etwas war, das aber nicht wirklich zu ihm gehörte.
Im Internat wird er als 11-Jähriger von seiner Klavierlehrerin erotisch erweckt, woraus 3 – 4 Jahre später eine manisch-exzessive Beziehung entsteht, die alle Facetten des Spektrums Unterwerfung und Beherrschung, erotische Exzesse, gegenseitige Abhängigkeit und Liebe umfasst. In einem kurzen Anfall von Autonomie gelingt es Roland, diesem ,deadly embracement’ zu entfliehen, allerdings mit dem ,Flurschaden’ des gleichzeitigen Abbruchs seiner formalen Ausbildung. Nach seinen ziellosen und zufällig zusammengesetzten Lehr- und Wanderjahren kommt er in London, im eher heruntergekommenen Stadtteil Clapham, zu einer Art Ruhe. Er heiratet Alissa, seine zeitweilige Deutschlehrerin, eine junge Frau aus Deutschland, deren Ehrgeiz, Schriftstellerin zu werden, durch die Ablehnung ihrer ersten zwei Romane tief enttäuscht wird. Aus Gründen, die Roland weder kennt noch versteht, verlässt sie ihn und ihren gemeinsamen, erst 3 Monate alten Sohn, und verschwindet vollständig aus seinem Leben. Er schlägt sich als Alleinerziehender, immer knapp vor dem Ruin, tapfer durch und kümmert sich liebevoll um seinen Sohn.
Der Roman schildert in vielen Rückblenden und Exkursen die Herkunftsmilieus der Eltern von Baines und dessen verschwundener Frau und verknüpft diese kunstvoll mit dem aktuellen Leben und der persönlichen Entwicklung von Alissa und Roland. McEwan gelingt es meisterhaft, diese Biografien mit dem jeweils aktuellen Zeitgeschehen zu hintermalen. Daraus entsteht ein anregendes und gleichzeitig provokatives Kaleidoskop der Epoche vom 2. Weltkrieg bis zur Covid-Epidemie; denn er begnügt sich nicht mit der Schilderung der geschichtlichen Abläufe an sich, sondern setzt den Schwerpunkt jeweils auf die Wirkung der geschichtlichen Ereignisse und deren Akteure auf die Hauptpersonen des Romans, in erster Linie auf Roland und Alissa. McEwan fungiert dabei als reiner Berichterstatter; die moralischen oder politischen Wertungen überlässt er vollständig den handelnden Personen – oder seinen Leserinnen und Lesern.
Roland Baines entwickelt sich im Verlauf seines Lebens zu einem Menschen, der durch Selbststudium – ohne formellen Abschluss – eine tiefe Reife und ein grosses Verständnis für die Breite des Spektrums des Menschseins entwickelt, und der fähig ist, sein eigenes Leben und seine Lebensbrüche zu reflektieren und anzunehmen. Er erkennt, dass für ihn das Leben ,just happened’, im Gegensatz zu ihm aber Alissa ,fought it’; und er versöhnt sich mit seinem Ansatz.
Eines der am stärksten berührenden Kapitel beschreibt, wie Roland seine zweite Frau Daphne in den Tod begleitet. Sie war mit Rolands Freund, Peter, verheiratet, und bot Roland und seinem Sohn, nach der Flucht Alissas, mit ihren drei Töchtern eine Ersatzfamilie und Geborgenheit. Nachdem Peter Daphne ein zweites Mal misshandelt und verlassen hatte, entschlossen sich Daphne und Roland, zu heiraten. Kurz nach der Heirat bekam Daphne die Diagnose ,Krebs’ – in weit fortgeschrittenem Stadium. Die Art und Weise, wie McEwan diese Lebensprüfung beschreibt, rührt und berührt und zeigt, wie zwei Menschen, die sich lieben, sogar in einer solch herausfordernden existentiellen Situation Glück und Zufriedenheit finden können.
Es ist müssig, und wahrscheinlich auch gar nicht möglich, hier die einzelnen Lebensstränge der Hauptpersonen von «Lessons» zusammenzufassen. Dieses Buch muss man lesen, oder ignorieren. Wer es liest, geniesst einen Höhepunkt der zeitgenössischen Literatur, und eine bereichernde und berührende Begegnung mit Menschen, die beeindrucken und zum Nachdenken über sich selbst und die Menschheit anregen.
Ian McEwan: danke!