
siehe auch nachfolgende Besprechung 2021-06: Maja Göpel «Unsere Welt neu denken»
Vorbemerkung:
Dieses Buch ist nichts für Menschen, die davon überzeugt sind, dass Bill Gates den Corona-Virus auf die Welt gebracht hat, um die entstehende Pandemie mit ‚seinen Impfstoffen‘ zu bekämpfen und gleichzeitig die geimpften Personen mit einem Chip auszurüsten, der es ihm erlauben würde, die Welt zu beherrschen.
Eine Schlüsselpassage für die Kernbotschaft von Gates findet sich auf Seiten 101 und 102. Aufhänger der Passage sind zwei Bilder von Shanghai, in denen, fotografiert vom gleichen Aussichtspunkt, der Unterschied zwischen 1987 und 2013 illustriert wird.
«… In short, we make materials that have become just as essential to modern life as electricity is. We’re not going to give them up. If anything, we’ll be using more of them as the world’s population grows and gets richer.
There’s copious data to back up this claim – we’ll be producing 50% more steel by mid-century than we do today, for example – but I think the two pictures below are just as persuasive.
Take a quick look at them. They look like two different cities, right?
They aren’t. They’re both photos of Shanghai, taken from the same vantage point. The first one was taken in 1987, the second one in 2013. When I look at all those new buildings in the second photo, I see tons and tons of steel, cement, glass and plastic.
This story is being repeated all over the world, though the growth in most places isn’t as dramatic as it was in Shanghai. To repeat a theme that comes up repeatedly in this book: This progress is a good thing. The rapid growth you see in those two photos means that people’s lives are improving in countless ways. They are earning more money, are getting a better education, and are less likely to die young. Anyone who cares about fighting poverty should see it as good news.
But, to repeat another theme that comes up a lot in this book: The silver cloud has a dark lining. Making all these materials emits lots of greenhouse gases. In fact, they are responsible for about a third of all emissions worldwide. And in some cases, notably concrete, we don’t have a practical way to make them without producing carbons.
So let’s look at how we can square this circle – how we can keep producing these materials without making the climate unlivable. For the sake of brevity, we’ll focus on three of the most important materials, steel, concrete and plastic. As we did with electricity, we’ll look at how we got here and why these materials are so problematic for the climate. Then we’ll calculate the Green Premiums for reducing emissions using today’s technology, and we’ll examine ways to drive down the Green Premiums and make all this stuff without emitting carbon. …»
Bill Gates mag das schlechteste Betriebssystem dieser Welt entwickelt und – erfolgreich – vermarktet haben, aber sein Buch ist hervorragend; die einzige Kritik, die ich anbringen kann, ist die Feststellung, dass die Ich-Form, mit der er die Thematik behandelt, fast zwangsläufig dazu führt, dass Bill Gates selbst und seine Familie manchmal fast exhibitionistisch und etwas zu heroisch daherkommen. Einem Menschen, der aus dem Nichts heraus ein Unternehmen geschaffen hat, das die Entwicklung der Informatik auf dem Weg von ihrer Mainframe-zentrierten zur Arbeitsplatz- und Benutzer-orientierten Architektur massgeblich geprägt hat und mehr als 20 Jahre nach der ‚Geburt‘ von MS-DOS und dem ersten PC immer noch zu den wertvollsten Unternehmen der Welt gehört, kann man das wohl verzeihen.
Das Buch ist hervorragend, denn:
- Es ist in einfacher, sachlicher Sprache geschrieben und damit leicht lesbar (ich lese die englischsprachige Originalfassung). Gates verzichtet auf lange, verschachtelte Sätze. Fachbegriffe oder Akronyme erklärt er systematisch. Sein Zahlenmaterial fundiert er stets mit Quellenhinweisen oder auch für Laien verständlichen Vergleichen.
Ein Beispiel für diese Charakteristik ist die von Gates immer wieder verwendete Bezugsgrösse ‚51 Milliarden‘ (im englischen Original natürlich 51 Billionen). Das ist die Anzahl Tonnen von Treibhausgasen, welche die Menschheit jährlich in die Atmosphäre entlässt. Die Menge an Treibhausgasen, welche die verschiedenen Hauptverursacher freigeben, ist normalerweise immer ein Prozentsatz dieser Gesamtzahl. Somit werden Leserinnen und Leser konsequent angehalten, sich über die relative Bedeutung eines Verursachers oder einer Reduktionsmassnahme im Klaren zu sein, beziehungsweise Wichtigkeit und Tragweite von Massnahmen richtig zu positionieren.
- Es ist klar und einleuchtend strukturiert, und Gates hält seine gewählte Struktur bis zum letzten Satz konsequent durch.
- Gates verzichtet auf Missionieren und Ideologie. Natürlich ist seine Botschaft: Die Menschheit muss die klimaerwärmenden Immissionen unbedingt und rasch auf ‚netto null‘ bringen; und diese Botschaft wiederholt er – er sagt dies selber – ‚ad infinitum oder vielleicht ad nauseam‘ (Seite 185, erster Satz von Kapitel 2. Level the Playing Field). Aber das macht er unaufgeregt und ohne ständig die Moralkeule zu schwingen oder Schuldige an den Pranger zu stellen.
- Dabei unterdrückt er die gigantische Grösse und Schwierigkeit der Aufgabe keineswegs; im Gegenteil: die Tatsache, dass er alle Ursachen der globalen Erwärmung darlegt und in ihrer Grössenordnung benennt, lässt wohl manchen (naiven) Greta-Schwärmer innehalten und sich bewusst machen: mit Freitagsdemonstrationen und Schulstreiks wird das Problem nicht gelöst.
- Gates weist auch immer wieder darauf hin, dass das Ziel ‚netto null‘ erst dann erreicht ist, wenn gleichzeitig zwei Bedingungen erfüllt sind: Erstens muss die westlich-industrialisierte Welt, die bis heute den grössten Beitrag zur Überhitzung des Klimas geleistet hat, auch den Löwenanteil an der Reduktion der klimaerwärmenden Immissionen leisten. Und zweitens müssen die Milliarden von bisher zurückgebliebenen armen Menschen die Chance bekommen, ihren Lebensstandard demjenigen der reichen Länder anzugleichen.
- Aber bei allen Herausforderungen strömt Gates Hoffnung und Optimismus aus, dass es der Menschheit gelingen wird – in einer Kombination von kluger staatlicher Regulierung und Förderung, wirtschaftlich getriebener Innovationskraft und tatkräftigem Unternehmertum – das Ziel ‚netto null‘ zu erreichen, ohne den Wohlstand auf das Niveau der Steinzeit herunter zu fahren.
- Das Erfreuliche (Utopische?) an Gates Botschaft ist, dass er nicht Verzicht predigt, sondern kluge Regulierung und Innovation fordert.
Die Struktur des Buches beeindruckt mich.
- Im ersten Kapitel begründet er, weshalb das Ziel ‚netto null‘ sein muss. Er gliedert – in Form von einprägsamen Fragen – die Haupttreiber für die Treibhausgasemissionen in folgende fünf Tätigkeitsgebiete der Menschen:
- Wie machen wir Strom?
- Wie produzieren wir ‚Zeugs‘?
- Wie lassen wir ‚Zeugs‘ wachsen?
- Wie bewegen wir ‚Zeugs‘ und uns selbst?
- Wie heizen oder kühlen wir uns?
Diese fünf Tätigkeitsgebiete ziehen sich wie ein roter Faden durch das ganze Buch.
Im Zweiten Kapitel schildert er, wie schwer das Erreichen dieses Ziels sein wird, und warum.
Im dritten Kapitel offeriert er seinen Leserinnen und Lesern fünf Fragen, die bei Diskussionen über Klimaerwärmung und spezifische Gegenmassnahmen immer wieder gestellt werden sollten:
- Über welchen Anteil an den 51 Milliarden Tonnen reden wir?
- Was sind Deine Pläne für den Zement?
Mit dieser Frage will Gates dafür sensibilisieren, dass die Klimadiskussion mit den Themen Elektrizität und Autos nicht zu Ende ist, obwohl diese ständig im Zentrum stehen. Autos verursachen ‚nur‘ etwa 16% der Transportemissionen, und die wiederum machen etwa 16% der Gesamtemissionen aus. Insofern ist diese Frage nur eine Erinnerung daran, dass zu einem vollständigen Plan für den Klimawandel viel mehr berücksichtigt werden muss als Elektrizität und Autos. - Über welche Strommenge reden wir?
Gates meint, dass Strommengen in Einheiten von Watt, Kilo- oder Gigawatt zu abstrakt sind und die wenigsten Menschen sich darunter etwas vorstellen können. Deshalb schlägt er als Massstab für Strommengen folgendes Gerüst vor:
-
- Stromverbrauch ganze Welt: 5’000 Gigawatt
- Stromverbrauch USA: 1’000 Gigawatt
- Stromverbrauch mittelgrosse Stadt: 1 Gigawatt
-
- Stromverbrauch kleine Stadt: 1 Megawatt
-
- Stromverbrauch ∅-Haushalt USA: 1 Kilowatt
- Wie viel Platz braucht’s?
In vielen Diskussionen über Energiefragen wird vernachlässigt, dass die Herstellung von Energie auch Platz braucht, manchmal sehr viel Platz. Gates schlägt vor, hier mit der Energiedichte zu arbeiten; das ist die Menge an Energie, die sich je nach Energiequelle pro gegebener Fläche Land (oder Wasser) gewinnen lässt. In den folgenden Beispielen verwendet er die Grösse ‚Watt pro m2‘. Daraus resultieren für:
Fossile Brennstoffe: 500 – 10’000
Nuklearenergie: 500 – 1’000
Sonnenenergie: 5 – 20
Wasserkraft: 5 – 50
Windenergie: 1 – 2
Holz und andere Biomasse: weniger als 1
- Was kostet’s?
Gates konstatiert, dass unsere heute überwiegend ‚schmutzigen‘ fossilen Energiequellen überwiegend die billigsten sind, die überhaupt erhältlich sind. Die meisten Null-Treibhausgasemittierenden Energiequellen sind teurer als die fossilen. Das hängt damit zusammen, dass die Kosten der fossilen Energiequellen die Kosten der Umweltschäden, welche sie verursachen, nicht enthalten. Den Preisunterschied nennt Gates ‚Green Premium‘, von mir übersetzt wäre das der ‚grüne Aufpreis‘. Es geht also darum, beim Wegkommen von den fossilen Energiequellen diejenige Lösung zu finden, die den geringsten grünen Aufpreis hat.
In den Kapiteln 4 – 9 behandelt Gates die einzelnen Hauptverursacher für die wichtigsten Quellen der Treibhausgase; er präsentiert eine Auslegeordnung von Antworten auf die bereits zitierten fünf Fragen:
- Wie machen wir Strom?
- Wie produzieren wir ‚Zeugs‘?
- Wie lassen wir ‚Zeugs‘ wachsen?
- Wie bewegen wir ‚Zeugs‘ und uns selbst?
- Wie heizen oder kühlen wir uns?
Er schildert dabei den jeweiligen Istzustand, die Haupttreiber der Emissionen und die heute bestehenden oder für die Zielerreichung erforderlichen neu zu erfindenden technischen Lösungen zu deren Verringerung oder gar Vermeidung – das Ziel ist und bleibt ‚netto null‘.
Gates bleibt seinem sachlich-nüchternen Stil treu und verzichtet auf alles Missionieren. Der Kern seiner Botschaft ist:
Die Aufgabe ist immens, aber lösbar, wenn einerseits die Staaten die richtigen Anreize setzen, falsche beseitigen, und anderseits sowohl Innovationskraft und Erfindergeist unserer Wissenschaftler und Ingenieure als auch der Gestaltungswille unserer Unternehmer sich frei entfalten können.
Gates hält nichts von Verzicht oder Verboten, weil diese erstens den notwendigen Ertrag nie und nimmer leisten könnten, und weil er es a priori für unrealistisch hält anzunehmen, die Menschen würden freiwillig auf wesentliche Teile ihres materiellen und kulturellen Wohlstands verzichten. Er verweist auch immer wieder darauf, dass es nicht damit getan ist, den nicht nachhaltigen Ressourcen-Konsum der westlich-industrialisierten Welt zu korrigieren, sondern dass es gilt, parallel dazu den wirtschaftlich und zivilisatorisch zurückgebliebenen Milliarden des ‚Südens‘ zu ermöglichen, den Lebensstandard der reichen Länder zu erreichen.
in Kapitel 10 und 11 führt Gates aus, welchen Beitrag er von den Staaten und internationalen Organisationen erwartet, und in Kapitel 12 liefert er einige Ideen und Anregungen, was jedes einzelne Individuum zum Erreichen von ‚netto null‘ beitragen kann.
Der Optimismus von Gates ist ansteckend, auch wenn es manchmal leichtfällt, die ‚wishful thinking‘-Keule zu schwingen und den Ansatz von Gates als hoffnungslos naiv abzulehnen. Wer das tut, muss allerdings auch dazu stehen, dass die Alternative zum Gates’schen Ansatz zwingend eine absolute und weltweit greifende Öko-Diktatur sein müsste.
Für mich ist die Wahl zugunsten des Gates’schen Optimismus offensichtlich. Trotzdem bleibt einige Skepsis:
- Der Zeithorizont von Gates ist offen. Er beschäftigt sich auch nie mit der Frage, wie ein weiterhin global zunehmender Wohlstand und damit verbundenes Wachstum je mit der gegebenen Endlichkeit der natürlichen Ressourcen aufgehen soll.
- Wahrscheinlich verbietet es Gates auch sein Optimismus, sich mit der Frage auseinander zu setzen, womit die Spezies Mensch es verdienen könnte, die erste Spezies unseres Planeten zu sein, die nicht dem Lebenszyklus von «Werden – Sein – Vergehen» unterworfen sein soll.
Spezielle Hinweise zum Schluss:
Gates geht kaum auf die Nukleartechnik und gar nicht auf de Gentechnik ein. Die Nukleartechnik handelt er ab, indem er den heute bestehenden Kernreaktoren, die auf Kernspaltung basieren, keine Zukunft zutraut und ohne Wenn und Aber davon ausgeht, dass die Erreichung von ‚netto null‘ nur mit einem Durchbruch im Bereich der Kernfusion möglich sein wird. Die Tatsache, dass die Kerntechnik nach wie vor durch gewaltige politische und emotionale Widerstände behindert oder gar blockiert ist, erwähnt er nicht. Möglicherweise geht sein Optimismus so weit, dass er davon überzeugt ist, dass mit der Zeit sich auch der letzte Mensch vom Mut zum Offensichtlichen leiten lässt.
Das Gleiche lässt sich vermutlich von der Gentechnik sagen. Er lobt zwar den Beitrag von Norman Borlaug für den Quantensprung in der Gewährleistung der Ernährungssicherheit über alles, erwähnt aber mit keinem Wort, dass der Schlüssel dazu in der Gentechnik lag. Offenbar sieht er in der risikoaversen und kontraproduktiven Haltung vor allem der europäischen Bevölkerung und Politik gegenüber der Gentechnik kein ernstzunehmendes Hindernis dafür, dass diese im Verlauf der zunehmenden Klimaerwärmung und der damit verbundenen Zyklen von extremer Trockenheit und Überflutung wesentliche Beiträge zur Erreichung von ‚netto null‘ leisten können wird und muss.
Vielleicht ist die Nicht-Behandlung der Widerstände grosser Teile der Bevölkerung gegen Nuklear- und Gentechnik durch Gates auch einfach damit erklärbar, dass in den USA die Offenheit gegenüber diesen Mitteln wesentlich grösser ist als in Europa; anders gesagt: Europa schwelgt – noch! – in einem Luxusproblem.
Ebenfalls erstaunt mich, dass Gates mit keinem Wort auf das Bevölkerungswachstum (als bedeutenden Treiber der Emissionen) eingeht. Es ist doch eigentlich paradox, dass die westliche Welt, mit Gates in einer führenden Rolle, einerseits sehr viel dafür tut, dass in der ärmeren Welt Krankheiten wie Malaria eliminiert, Gesundheitssysteme aufgebaut und betrieben, Governance-Verbesserungen eingeführt und durchgesetzt werden, was alles zu Bevölkerungswachstum führt, und anderseits sich den Kopf darüber zerbricht, wie die Übernutzung der natürlichen und begrenzten Ressourcen des Planeten gestoppt und reduziert werden kann.