How the World Made the West – A 4000-Year History

How the World Made the West – A 4000-Year History
Josephine Quinn, 2025-01

Wie so häufig hat mich The Economist dazu animiert, dieses Buch zu lesen. Es figuriert auf dessen per Jahresende 2024 publizierten Liste «Best Books of the Year» mit folgendem Text:

«Even seasoned history buffs will enjoy this journey across the arc of European history, which shows that the concept of ,Western civilisation’ has always been flawed.»

Ein Genuss – allerdings ein herausfordernder Genuss – war die Lektüre allemal. Der Autorin, Josephine Quinn, gelingt es hervorragend zu zeigen, dass die – typisch anmassende eurozentrische – These, die westliche Zivilisation habe sich auf und aus dem Fundament der griechisch-römischen Kulturen entwickelt, eine historische Selbsttäuschung sowie eine grobe Verfälschung der geschichtlichen Tatsachen ist, und dass die These ausserdem auf einem grundlegend falschen Verständnis des Konzeptes ,Zivilisation’ basiert. Dieses gründe nämlich in der Vorstellung, dass Zivilisationen einen diskreten Beginn und ein entsprechendes Ende und damit gewissermassen einen statischen Zustand hätten. Im Gegensatz dazu betrachtet Frau Quinn Zivilisationen, soweit sie diesen Begriff überhaupt anerkennt und verwendet, als zeitweilige Zustände, gewissermassen Momentaufnahmen einer kontinuierlichen Entwicklung, die, von einem fluiden Zustand ausgehend, unendlich vielen Einflüssen ausgesetzt sind, und selbst immer wieder neue fluide Zustände annehmen. Zivilisationen sind in dieser Vorstellung eine Sicht von aussen (oder aus dem Nachhinein), die einen kontinuierlichen gesellschaftlichen Entwicklungsprozess und Wandel willkürlich ,einfriert’.

Frau Quinn gelingt dies, indem sie die letzten 4’000 Jahre der zivilisatorischen Entwicklung der Menschheit im Überschallflug zusammenfasst und immer wieder zeigt, dass Entwicklungsschritte nicht aus dem Nichts entstehen, sondern Teil eines viel umfassenderen, kontinuierlich fortschreitenden und nicht zielgerichteten Prozesses sind.

Sie macht so deutlich, dass beispielsweise die griechische Welt nicht auf der grünen Wiese ,erfunden’, oder vom Himmel auf eine unberührte Landschaft abgeworfen wurde, sondern sich selbst aus zahlreichen Vorläufer- und Parallel-Welten entwickelt hat, und dass sie nicht nahtlos, sondern auf zahlreichen Umwegen in die römische Welt Eingang gefunden hat.

Dieses erratische Puzzle wird vom englischen Herausgeber David Nutt sehr schön auf den Punkt gebracht; er qualifiziert 1888 die erste, von Sir Thomas North 1570 herausgegebene englischsprachige Übersetzung eines Werks von Plutarch, die mehrere Stücke von Shakespeare inspirierte, wie folgt: «Es war ,die englische Version einer italienischen Adaption einer Spanischübersetzung einer lateinischen Version einer hebräischen Übersetzung einer arabischen Adaption der Pehlevi-Version des indischen Originals.’» (Seite 414)Josephine Quinn beschliesst ihr Werk mit folgendem Absatz:

«The question we now face is not whether Western Civilisation is bad or good, but whether civilisational thinking helps explain much of anything at all. Understanding societies in terms of lonely trees and isolated islands is 200 years out of date and it is demonstrably, historically, wrong. It is time to find new ways to organise our common world.»

Ich habe meinen Geschichtsunterricht von 70 Jahren im Gymnasium genossen. Da war er gemäss Frau Quinn also bereits seit 130 Jahren obsolet. Ich habe nicht den Eindruck, dass dies heute grundlegend anders ist. Das finde ich traurig und deprimierend. Auch wenn es erklären mag, wie Putin oder Xi mit ihrem befangenes Denken in Zivilisationen zu ihren politischen Überzeugungen und Verirrungen gelangen.

Leider macht Frau Quinn keinen Vorschlag, wie denn zivilisatorische Leistungen (z.B. der Stellenwert von individueller Freiheit und Verantwortung, das Konzept der ,rule of law’, die regelbasierte Weltordnung, das Völkerrecht), die unbestritten im so genannten Westen entstanden und verwurzelt sind, gesellschaftlich anders eingeordnet werden könnten denn als hervorragende genuine Leistungen des Westens.

PS:

Ich halte das Buch von Josephine Quinn für ähnlich epochal und grundlegend für die Genese und das Verständnis unserer heutigen Gesellschaft wie «Money Changes Everything – How Finance Made Civilization Possible» von William N. Goetzmann (siehe Buchbesprechung 2018-21). Beide setzen sich mit zwar gehätschelten und via Bildungswesen stets perpetuierten falschen Mythen auseinander und belegen mit einem überwältigenden Fundus von historischen Fakten und Zeugnissen, dass einerseits nicht intellektuelle Höhenflüge, sondern der schnöde Mammon das Fundament der menschlichen Zivilisation ist, und dass anderseits nicht die edlen antiken Griechen und Römer den so genannten Westen prägten, sondern dass diese nur deshalb die zivilisatorische Entwicklung beeinflussen oder vorantreiben konnten, weil sie selbst auf den Schultern zahlreicher vorangegangener oder zeitgleich wirkender Grössen standen.

Es wäre an der Zeit, dass diese Sicht in unseren Bildungskanon Eingang fände und damit auch einen Beitrag leistete zur Anerkennung aller Seitenströme, die unseren heutigen gesellschaftlichen Zustand wesentlich mitformten – und letztlich auch zu einer grösseren Bescheidenheit der eurozentrischen Eliten gegenüber allen anderen Kulturen.

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