Goethe – Kunstwerk des Lebens

Goethe – Kunstwerk des Lebens
Rüdiger Safranski, 2015-01

Die Goethe-Biografie ist ein schwerer Einstieg in ein neues Lesejahr: 650 Seiten (noch ohne Anhänge); essayistische Biografie, die sich mehr um Entwicklungsphasen Goethes kümmert als um chronologische Abläufe (was nicht als Kritik gemeint ist, sondern nur als Erklärung, wieso die Lektüre Leserinnen und Leser fordert); Safranskis sehr gehobene, meisterhafte Sprache, durchmischt mit zahlreichen Goethe-Texten (kursiv gedruckt) und ebenso vielen Texten von Zeitgenossen Goethes; minutiöse, sehr fundierte und alle erdenklichen Facetten beleuchtende Analysen und Zusammenfassungen von Goethes Werken.

Trotzdem – vielleicht deshalb: ein sehr lesenswertes Porträt eines der literarischen ‚Titanen‘ der deutschen Literatur.

Safranskis zentrales Thema ist, dass und wie Goethe sein eigenes Lebens als eigenständiges Kunstwerk inszeniert; dabei verzichtet er auf zahlreiche Aspekte, die bei vielen Biografien das eigentliche Fleisch am Knochen ausmachen, wie etwa Schilderungen des Lebens der Menschen (differenziert nach sozialen Schicht) zu Goethes Zeit; historische Hintergründe des politischen Geschehens der Epoche; Arbeitsweise und Alltagsleben Goethes (die Tatsache beispielsweise, dass Goethe einen oder mehrere Sekretäre beschäftigte und einen schönen Teil seiner Werke diktierte, ist kein Thema, der Sachverhalt wird allenfalls beiläufig erwähnt). Safranski hält all diese Dinge nicht für wichtig oder erwähnenswert, oder er setzt voraus, dass seine Leser damit vertraut sind, was es heisst, um 1770 zu Fuss von Frankfurt nach Leipzig zu gelangen, oder zu Beginn des 19. Jahrhunderts mit der Kutsche von Weimar nach Karlsbad zu reisen.

Safranski fasst in seiner «Schlussbetrachtung oder Werden, der man ist» Wesentliches zur Persönlichkeit Goethes zusammen, das er im Verlauf der Biografie verschiedentlich anspricht oder ausführt. Der zentrale Punkt ist die Aussage, Goethe «wollte eben nicht das Erkennen erkennen, sondern die Welt». Dass dabei – auch von Safranski – übersehen wird, dass das ‚Erkennen des Erkennens’ eben auch zur Welt gehört, und dass die Negierung dieses Anspruchs im Grunde genommen nichts als ein Rückzug ins Private und Subjektive ist, führt allerdings diese Haltung ad absurdum. Auch der von Goethe gehegte und fast religiös vertretene ‚Trost‘: «Wir haben die Kunst, um nicht an der Wirklichkeit zugrunde zu gehen.» bestätigt diese im Grunde lebensfeindliche Haltung.

Goethe erscheint in dieser Biografie in verschiedenen Rollen, in unterschiedlichen ‚Masken‘:

  • Rebell: Autor von Götz von Berlichingen und Werther
  • Staatsmann: selbsternannter Alleskönner, der sich alles zutraut
  • Autotherapeut: fast jedes Werk von Goethe ist in dem Sinn autotherapeutisch, indem er sich persönliche Probleme, Lebenskrisen oder schwierige Erfahrungen von der Leber schreibt
  • Philosoph: greift häufig vorgedachte Gedanken und Thesen anderer Denker auf und verarbeitet sie – wahrscheinlich seiner Zeit entsprechend – ohne Quellenangaben in seinen eigenen Werken; bringt in seinem Werk allerdings auch eigenständige Gedanken unter, die manchmal geradezu prophetisch wirken
  • Opportunist: 
    • Goethe kommt aus einer gehobenen und vermögenden Gesellschaftsschicht, in der er sich wohl fühlt, und in der er als grosszügig bezahlter Diener eines Herzogs/Grossherzogs praktisch sein ganzes Erwachsenenleben verschmarotzt, obwohl sein Werk bereits das Ende dieser Gesellschaft andeutet und mindestens zwischen den Zeilen postuliert
    • alles, was formal gut aussieht und gestaltet ist, insbesondere auch politische Grösse, ist an sich gut; so wie Goethe für Napoleon schwärmt und mit stolzgeschwellter Brust dessen Orden trägt, hätte er wohl auch Hitler ‚angebetet‘ – und nachher von nichts etwas gewusst
  • Statussucht: Goethe kann nicht gross genug dastehen; als Kulisse braucht er entsprechend ‚hohes Personal‘; da ist ihm Napoleon gerade recht und gross genug
  • Schwärmer und Kindmann:
    • selbst areligiös, stellt er trotzdem alles und jedes in einen völlig willkürlichen Zusammenhang mit Göttern der Antike
    • liebestoller Frauenheld, der bis ins – für seine Zeit – extrem hohe Alter von beinahe 80 Jahren jungen Frauen nachstellt
  • exaltierte Mitteilungssucht:
    • jede Gefühlsregung, jeder Gedanke, jede Erinnerung, jedes Erlebnis ist ein Gedicht, einen Tagebucheintrag, oder einen Brief oder alles zusammen wert (ausser, wenn jemand in oder aus Goethes Nähe verstarb – dann verstummte und erkrankte er – er konnte den Tod nicht ausstehen, er verstiess gegen seinen Schönheitsanspruch);
    • man stelle sich vor, zu Goethes Zeiten hätte es bereits Twitter oder Facebook gegeben…
  • Goethe – der Zerrissene:
    • die zwei Seelen, die er in seiner Brust hatte, stilisiert Goethe als (gemäss Safranski als dialektisches?) Spannungsfeld zwischen Poesie und Wirklichkeit hoch;
    • er meint offenbar, er sei der einzige Mensch, der unter einer Spannung von inneren Gegensätzen, widersprüchlichen Wunschvorstellungen und zu vielen Optionen steht und reduziert die Tatsache, dass jeder Mensch zwischen mehr als zwei Polen ständig hin- und her fluktuiert, auf den ‚romantischen‘ Gegensatz zwischen Poesie und Wirklichkeit

Insgesamt, aber eher implizit, kristallisiert Safranski einige Grundzüge des ‚deutschen Wesens‘ (sofern es so etwas gibt) heraus:

  • Alles, was mit Goethe zusammenhängt, bezieht sich nicht auf das ‚deutsche Wesen‘ insgesamt, sondern ‚nur‘ auf das Wesen des deutschen Bildungsbürgertums; und das ist a priori sehr abgehoben und elitär.
  • Die Reimform und der Autor ‚Goethe‘ machen aus Banalem Erhabenes.
  • Goethe als Dichter und Denker, der sich primär um die Phänomenologie der Dinge, nicht um das Wesen der Dinge kümmert – und sich nur dafür interessiert –, ist ein Vorläufer und Wegbereiter der zeitgeistigen Religion der Beliebigkeit: wichtig ist was ich sehe, nicht was ist; die Auseinandersetzung mit dem, was ist, ist primitiv und ein Verstoss gegen den Anspruch, dass nur beachtenswert ist, was ‚schön‘ oder ästhetisch ansprechend ist. Hoch lebe die Subjektivität, das Gefühl – nieder mit dem Verstand.

Goethe erscheint mir in dieser Biografie als hochinteressanter Spiegel einer sehr elitären Seite seiner Zeit, keineswegs als ihr Repräsentant. In seiner Abgehobenheit und seinem egozentrischen Dünkel wirkt er auf mich wie ein unerträgliches Ekel. Aber genug der Schmäh’! – man muss ihm begegnet sein.

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