Das Buch wurde mir von einer Beraterin bei Orell Füssli im Kramhof in Zürich empfohlen, als ich auf der Suche nach passenden Biographien für eine Bekannte war. Für die Zielperson kam das Buch nach der Lektüre dessen Klappentexts nicht in Frage, aber die Geschichte interessierte mich selbst, also kaufte und behielt ich es. Es hat sich gelohnt.
Peter Kamber erzählt die Geschichte seiner beiden Hauptpersonen Wladimir Rosenbaum und Aline Valangin auf unaufgeregte Weise, kompakt, sachlich und ja nach Lebensphase teilweise sehr konzentriert, teilweise sehr detailliert bis ausschweifend. Die eigentliche Lebensgeschichte hört jedoch eigentlich abrupt auf, nachdem ein Bruch im Leben Rosenbaums (siehe unten) das Leben und die Lebensgrundlagen der beiden abrupt und brutal buchstäblich auf den Kopf stellt. Der zweite Teil dieser beiden Leben, nach dem Bruch, wird, obwohl es fast gleich so lange dauert wie vor dem Bruch, nur sehr summarisch geschildert, grösstenteils in Form von «Epilog», «Postskriptum» sowie in einem «Nachwort zur Neuausgabe». Dies mag der Autor, ohne es explizit zu sagen, damit begründen, dass die professionelle Exzellenz Rosenbaums und die gesellschaftliche Rolle und Prominenz der beiden durch den Bruch und nach dem Bruch zerstört sind.
Rosenbaum kommt als Sohn jüdischer Eltern im Dezember 1894 in Minsk, Weissrussland (damals Teil des russischen Zarenreichs), auf die Welt. «In jedem Jahr bestieg Nikolaus II den Zarenthron; er war «ein von Judenhass erfüllter Herrscher, der entschlossen war, mit allen Mitteln am autokratischen Regierungsstil festzuhalten». Der Antisemitismus war in Russland nach einer vorübergehenden Phase der Liberalisierung wieder auf Gesetzesstufe gebracht worden: Verbot von Landerwerb und Aufenthalt der Juden ausserhalb der Städte (1892), Beschränkung von Zulassung der Juden zu den Lehranstalten (1896), Ausschluss der Juden von Juristenberufen (1886), Massenausweisung von jüdischen Handwerkern aus Moskau (1891).» Der Antisemitismus eskalierte dramatisch und resultierte in einer organisierte Hetze, in einem Pogrom mit Morden, Vergewaltigungen und Folterungen. Innert kurzem fanden auch in Weissrussland Pogrome statt; wer immer konnte, brachte Familie und Kinder weit weg. Rosenbaums Familie (Mutter und eine seiner beiden Schwestern) gelangten nach Genf, als Wladimir 8-jährig war. Rosenbaums Vater war in einem strikt jüdischen Milieu, in dem nur hebräisch oder jiddisch gesprochen wurde, aufgewachsen, hatte aber, um studieren zu können, in Rekordkürze russisch gelernt, und wurde zum Jura-Studium zugelassen, trotz strenger Selektionskriterien, aber mit brillanten Bestnoten. Er wurde nicht nur ein gesuchter und bekannter Anwalt, sondern engagierte sich auch in der Zionistenbewegung, deren Ziel die Errichtung eines eigenen jüdischen Staates war.
Nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs zog er nach dem litauischen Wilna; er wurde an die Spitze der zionistischen Bewegung gewählt; er gehörte auch der jüdischen Verhandlungsdelegation an, die am Ende des Kriegs mit der türkischen Regierung über die Zukunft Palästinas behandelte. Als Litauen nach dem Krieg selbständig wurde, verfasste er den Staatsvertrag mit Russland und wurde zunächst stellvertretender Aussenminister, und 1923 ,Minister für jüdische Angelegenheiten’. Als jedoch auch in Litauen das Leben für Juden immer schwieriger und unsicherer wurde, trat er als Minister zurück und emigrierte nach Palästina.
Wladimir wuchs in Minsk in gut-bürgerlichen Verhältnissen auf. Er neigte aber stärker zu rustikalen Erfahrungen und wilden Spielen mit Bauernburschen. Die Welt der ,besseren jüdischen Familien’ mit französischen Erzieherinnen behagte ihm nicht.
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde im russischen Zarenreich ein seit langem unter der Decke schwelender Antisemitismus immer expliziter und virulenter; in der Folge fanden mehrere grausame Judenpogrome statt, denen viele Juden zum Opfer fielen. Es grassierte zunehmend eine systematische Diskriminierung der Juden; höhere Studien und anspruchsvolle, vor allem selbständige Berufe wurden ihnen verwehrt. Um seine Familie zu schützen, sandte Wladimirs Vater, Simon, erfolgreicher Jurist, seine Gattin und die ältere Tochter (sein drittes Kind, die älteste Tochter Vera, hatte das Land bereits zuvor verlassen) in die Schweiz, nach Genf. Simon machte zunächst noch in Russland als Anwalt Karriere; er wurde Mitglied der Duma, exponierte sich jedoch durch seine Beteiligung an mehreren verschiedenen Liberalisierungsprojekten sowie durch sein Engagement in zionistischen Kreisen. Nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs entzog er ich der Verfolgung und Unterdrückung in Russland und liess sich Wilna (Vilnius, Litauen) nieder; er engagierte sich dort in der Politik. Als stellvertretender Aussenminister verfasste er den zur Selbständigkeit Litauens führenden Staatsvertrag zwischen Litauen und Russland. Als sich nach einer Phase der Liberalisierung auch in Litauen die Lage der Juden zunehmend verschlechterte, trat Simon 1924 als Minister zurück und emigrierte nach Palästina. Seine Frau war um 1906/07 ohne die Kinder nach Russland zurückgekehrt, lebte damals jedoch nicht mehr.
Die Akklimatisierung der Rosenbaum’schen Rumpffamilie (Mutter, ältere Schwester Lilly) war schwierig; Wladimirs älteste Schwester befand sich in einem Mädchenpensionat in Zürich. Nach vier Jahren kehrte die Mutter nach Russland zurück, und Vera kam ins gleiche Pensionat in Zürich wie Lilly. Damals war Wladimir bereits Schweizer geworden (wie das funktioniert haben soll, wird nicht erklärt). Er wurde einer Betreuerfamilie Fankhauser in Lausanne anvertraut. Mit Herrn Fankhauser, einem im Welschland geborenen Deutschschweizer, cholerischen Lehrer, kam Wladimir überhaupt nicht zurecht, oder umgekehrt; er hatte aber Glück, nach kurzer Zeit kam er als Pflegekind in eine kinderreiche jüdische Familie Epstein, die auch eine Schülerpension betrieb.
Herr Epstein, Privatgelehrter und Religionsphilosoph, nahm sich seiner vertrauens- und teilnahmsvoll an. Er führte ihn in Kunst und Literatur, auch Religion, ein und erschloss ihm eine geistige Welt, «deren Vorhandensein ich nicht geahnt hatte» (Seite 19). Nachdem die Familie Epstein ihre Pension aufgegeben hatte, gelangte Wladimir in die Obhut der Familie Petermann, die ihn aber hinauswarf, weil er gegen die Begründung, er als Jude dürfe nicht am üblichen gesellschaftlichen Leben seiner Altersgruppe teilhaben, rebellierte. Er durchlebte eine Phase, in der er sich zu einem Schwererziehbaren entwickelte, der stahl, was ihm in die Finger kam, und wütend rachsüchtig alles zerstörte, was er nur konnte. Schliesslich wurde im für schwerziehbare Jugendliche berüchtigte Landeserziehungsheim Glarisegg (am Untersee) ,versorgt’. Er hatte aber Glück, von der Familie des Lehrers Öttli wie ein eigener Sohn aufgenommen und betreut zu werden. Allerdings wurde ihm nach einem Rückfall nahegelegt, Glarisegg zu verlassen und den Rest seiner Maturavorbereitung an einer Zürcher Privatschule zu absolvieren. Das brachte ihn zur Vernunft u8nd stachelte seinen Ehrgeiz an; er wollte es den Glariseggern so heimzahlen, dass er seine Maturaprüfung ein halbes Jahr vor seinen Jahrgangsgenossen erfolgreich bestand.
Danach begann er in Zürich ein Jura-Studium. Als sein Vater kein Geld mehr hatte, um seinen Aufenthalt in Zürich zu finanzieren, bewarb sich Wladimir, auf Anraten eines seiner Professoren, beim Eidgenössischen Politischen Departement (heute EDA), wo er, vor allen dank seinen Sprachkenntnissen als Adjunkt angestellt wurde. Er zog also nach Bern und setzte berufsbegleitend sein Studium dort fort.
Auf einer Bergtour im Berner Oberland lernte Rosenbaum seine spätere Frau Aline Ducommun um 1916-17 kennen. Aline Ducommun war von Rosenbaum schon bei der ersten Begegnung beeindruckt; die Art und Weise, wie er als informeller Bergführer eine kleine Gruppe von Bergbegeisterten spontan, einfühlsam und rücksichtsvoll auf die Tour zur Wilden Frau führte, und vor allem wie er, nachdem einer der Begleiter Rosenbaums aus Erschöpfung nicht mehr weitergehen konnte und auf einem schmalen Felspfad in einer senkrechten Wand, von dem man hunderte Meter abstürzen konnte, die Gruppe auf äusserst gefährlicher Route zurück zur nächstgelegenen sicheren Hütte brachte, rang ihr hohe Bewunderung ab.
Aline Ducommun war 5 Jahre älter als Ro(senbaum); sie kam 1889,in Vevey als Tochter eines Apothekers auf die Welt. Als Aline vierjährig war, zog die Familie nach Bern; der Vater hatte die Leitung der Apotheke des Inselspitals übernommen. Der Vater war Nachfahre von französischen Hugenotten, die im Zeitalter der Religionskriege in Valangin, einem Dorf im neuenburgischen Jura Zuflucht gefunden hatte. Sie hatte zu diesem Ort eine so besonders starke emotionale Verbindung, dass sie den Namen Valangin 1936 zu ihrem Pseudonym machte. Ihre Mutter kam aus gutbürgerlicher Familie, war in ihrer Jugend einige Jahre in England erzogen worden, spielte gut Klavier, war gebildet, sehr schön und lebenslustig. Sie hat jung geheiratet, liebte aber das Leben im Haus ihres Schwiegervaters; bei diesem herrschte ein offenes Haus, «bei ihm gingen wichtige Leute aus allen Ländern ein und aus, es gab immer Feste, Gesellschaften, Vorträge, immer war er unter Menschen. Mein Vater aber war ein stiller Mann, nur seinen Büchern und Zeichnungen ergeben. Er hasste das Leben im Hause seines Vaters und zwang auch meine Mutter, darauf zu verzichten. So lebte sie sehr enttäuscht. Es war kein Leben für sie. {Seiten 42-43)».
Die Mutter entfloh ihrem unglücklichen Leben, indem sie sich total ihrem Kind Aline auslieferte. sie beschrieb dies nach dem Tod der Mutter in einer autobiographischen Notiz so: «Sie saugen dem Kind das Blut aus, um sich zu beleben. Da sie vermieden haben, sich selbst einen Wert über den der Mutter hinaus zu geben, soll nu der Wert des Kindes in die Waagschale gelegt werden, zu ihren Gunsten. Und wie oft ist es Neid, was die Mutter veranlasst, die Tochter nicht gehen zu lassen, sie an ihr ältliches Leben zu binden und ihr nicht zu gönnen, was nicht auch sie sich leisten könnte. Wie viele Mädchen besonders der letzten Generation sind nicht so geopfert worden und haben ihr Leben vergeudet im Zuhausesitzen. (Seite 44)» Aline konnte sich schon als Kleinkind sukzessive der Umklammerung ihrer Mutter entziehen, umso mehr als ihre jüngere Schwester die totale Aufmerksamkeit und Zuwendung der Mutter monopolisierte: «Sie hatte die Aufmerksamkeit der Mutter mehr nötig als ich (Seite 46)».
Was die Verbindung zwischen Tochter Aline und Mutter zunehmend trug, war sie Musik. Die Mutter hatte Aline, als sie 5-jährig war, das Klavierspielen beigebracht und begleitete ihre Fortschritte eng.
Später wurde Aline einmal wöchentlich bei ihren Grosseltern väterlicherseits zum Mittagessen eingeladen. «Elie Ducommun war eine Persönlichkeit und hatte mit seiner kosmopolitischen Lebensphilosophie nicht nur auf Alines Mutter einen grossen Eindruck gemacht. Er war überzeugter Pazifist und erhielt 1902 zusammen mit seinem Freund Albert Gobat den Friedensnobelpreis. Aline Ducommmun war damals dreizehn Jahre alt. Sie wuchs recht eigentlich in der Friedensbewegung der Jahrhundertwende auf. ,Ich und meine Schwester mussten bei Vorträgen jeweils in weissen Kleidern vorne sitzen und den Frieden darstellen. Wir fanden das ganz natürlich, wir wussten von nichts anderem. Wir wurden allen diesen Leuten vorgestellt. Da waren russische Gräfinnen, die mich auf die Knie nahmen und abküssten, da war Bertha von Suttner, die den Friedensnobelpreis 1905 erhalten sollte und den berühmten Soman «Die Waffen nieder!» geschrieben hatte, sie hat mich auch gehätschelt. Grossvater hat 8ns versichert, wir brauchten keine Angst zu haben, es gebe keinen Krieg mehr, es könne keinen mehr geben. … Zum Glück erlebte Elie Ducommun den Ersten Weltkrieg nicht mehr. Er starb, friedlich umgeben von seinen Lieben, 1906’ (Seite 48)».
Auch Alines Eltern, insbesondere ihr Vater, weckten und pflegten das Verständnis ihrer Töchter für die Lage der damals zahlreichen Flüchtlinge, vor allem auch der Juden, aus Europas Osten, vor allem aus dem zaristischen Russland. Der Vater konnte kaum junge Schweizer Angestellte für seine Apotheke finden, weil das Studium der Pharmakologie bei den jungen Studenten aus der Schweiz kein Lieblingsfach war. Er musste fast ausschliesslich mit aus dem Ausland, primär aus Deutschland ,eingeführten’ Angestellten arbeiten. Er klärte die Töchter auf, dass die vielen Studenten aus Russland wegen ihrer politischen Haltung in ihrem Land nicht mehr leben könnten, weil sie dort kein Recht hätten zu studieren und gesellschaftlich völlig ausgegrenzt seien.
Für Aline wurde die Musik zum dominierenden Lebensinhalt. Mit 15 wurde sie vom Konservatorium Lausanne aufgenommen, wohnte in einer Pension, und war regelmässiger Essensgast bei ihrem Onkel, einem Bundesrichter. Durch Vera, eine Russin aus dem Baltikum, die bald zu ihrer engen Freundin und Mentorin wurde, lernte sie, aus ihrem gutbürgerlichen und strikt auf Konventionen ausgerichteten Denken auszubrechen, kritischen Sinn, und frei zu denken. Dies wurde noch verstärkt durch einen Kreis russischer Studenten und Emigranten, in dem sie sich wohl und frei fühlte. Damit wurde Alines Ablösung von zuhause, vor allem von ihrer dominanten Mutter, die sie vollkommen beherrschen wollte, beschleunigt. Zwar gelang es der Mutter noch, erste Liebschaften mit allen Mitteln zu hintertreiben; das Zerwürfnis zwischen Mutter und Tochter wurde unüberwindbar und trieb Aline von zuhause fort. Eine erste Jugendliebe zerbrach gleichzeitig, weil ihr Freund das für Aline unverzeihliche Verbrechen begangen hatte, einem Hund einen Fusstritt zu versetzen.
Aline wollte unbedingt Bern verlassen, um sich sowohl von ihrem Freund als auch von ihrer Mutter unabhängig zu machen. Sie nahm eine Stellung als Privatsekretärin beim elsässischen Pazifisten Stehlin an. «Nun war ich also frei. Und so ging ich denn in die Welt hinaus. Mutter und der Freund blieben zurück. Ich sah wohl beide von Zeit zu Zeit. Es war sehr qualvoll, ohne Sinn und Leben. ein zwangvolles leeres Spiel mit zerbrochenen Formen. Das neue Leben nahm mich mit. Ich war vogelfrei. Und die Welt verfügte über mich (Seite 61)».
Die Stehlins, Ko-Inhaber einer grossen Spinnerei im Elsass, hatten einen Sohn und eine Tochter, ein wenig jünger als Aline. Sie wurde von der Familie gut aufgenommen. Die Tochter wurde ihre liebe Freundin. Die Arbeit lag ihr; Fernand Stehlin publizierte gerne und fleissig Pamphlete für den Frieden. Aline konnte ihn dabei sprachlich – Stehlin sprach nur unsicher deutsch – und redaktionell sehr wirksam; und arbeitete sie gerne für den Frieden. Ausserdem konnte sie weiter Klavier spielen. Sie musste zwar, weil ihre Familie sie nicht mehr bei der Weiterverfolgung ihrer Karriere als Pianistin unterstützen wollte, ,als Preis für ihre Freiheit’ (Seite 61) auf einen gezielten Unterricht verzichten.
Nach der Wiederbesetzung des Elsass (seit 1871 deutsch) durch Frankreich kehrte Aline nach Bern zu ihrer Familie zurück; sie bezog ihr altes Zimmer und begann, als Klavierlehrerin zu arbeiten. Den Kontakt zu Stehlin hielt sie aufrecht; dieser hatte sich inzwischen von seiner Frau getrennt und war mit Zwischenstation Basel nach Zürich übersiedelt. Er soll sich unsterblich in Aline verliebt haben. Er bot ihr in Zürich eine Stelle an. Sie nahm an, ging aber zu ihm als Person auf Distanz.
Inzwischen war auch der Student Rosenbaum wieder in ihr Leben getreten. Sie befand sich plötzlich in der Situation, zwischen zwei Männern hin- und hergerissen zu werden. Fernand beschwor sie, seine Frau zu werden. «Meine persönliche Unsicherheit zu jener Zeit bestand darin, dass ich ehrlicherweise nicht wusste, ob ich einen, und wenn ja, welchen von zwei Männern, die mir nahe waren, als Gatten wählen sollte. Beide wünschten, mich zu heiraten, beide waren mir teuer. Die Situation wurde peinlich.»
Nach längerem Hin und Her, brachte Aline Fernand mit dem noch unbekannten Dr. Jung zusammen; diesem gelang es, Fernand Stehlin davon zu überzeugen, Aline nicht weiter zu bedrängen. Schliesslich ging er nach Frankreich zurück, heiratete nochmals und bekam noch zwei Töchter.
In der Zwischenzeit wurde die Beziehung zu Rosenbaum, der zwischen Bern und Zürich pendelte und in Zürich bei ihr wohnte, immer enger und intimer.
Auch Aline selbst war in Kontakt mit Jung gekommen und begann eine Analyse bei Jung. Die Erschliessung des ,Unbewussten’ eröffnete ihr völlig neue Lebensperspektiven und Einsichten in ihre innere Welt. Während Jungs zahlreichen Abwesenheiten wurde sie von dessen Schüler, Dr. Oczeret, betreut, während dessen Frau, ebenfalls Analytikerin, sich um Rosenbaum kümmerte. «An Leseabenden und Tanzkursen führten die Oczerets ihre Analysandinnen und Analysanden und ermunterten sie zu allerlei experimentellen Lebensformen, insbesondere zum ,Gemeinschaftsleben’. Sich selbst legte Oczeret keine Zurückhaltung auf und verwechselte die Abhängigkeit seiner Analysandinnen mit der Leichtigkeit zur Befreiung der Triebe. Die sexuelle Revolution, welche die politischen Umwälzungen begleitete, liess die Luft vibrieren. Der ,Durchbruch zur Moderne’ vollzog sich nicht nur in der Kunst, sondern) auch in den Betten. Als es 1921 zum Skandal kam (Anmerkung BB: wegen einer Serienansteckung von Patientinnen von Oczeret mit Gonorrhö), verliess Oczeret für lange Jahre die Schweiz. Mit Jung, seinem Lehrmeister, hatte er sich schon 1917/18 überworfen. Aline Valangin und Wladimir Rosenbaum war die Affäre zwar unangenehm, aber daran, dass Oczerets libertäre Lehren sie beide tief geprägt hatten, liessen sie keinen Zweifel. Aline Valangin: ,Er war unerbittlich im Aufzeichnen von Schwächen, falschen Gedanken, Wünschen, von allerlei verstecktem Getändel und Flauheiten. Da er fand, ich komme gut vorwärts und verstehe, um was es in einer Psychoanalyse gehe, setzte er mich bald als Assistentin ein. Ich hatte nun nicht nur für mich Verantwortung zu tragen, sondern auch für andere, oft viel ältere Leute als ich. Die Patienten besprachen ihre Schwierigkeiten einmal in der Woche mit dem Arzt, zweimal mit mir, wobei ich Bericht zu geben hatte. Es schien, als ob ich mit dieser Arbeit meinen eigentlichen Beruf gefunden hätte (Seite 67)».
Gegen heftigen Widerstand von Alines Mutter heirateten Aline Ducommun und Wladimir Rosenbaum im November 1917 in Zürich. «Ich hatte einfach das Gefühl, das ist in Ordnung, ich mag mit dem sein, es lohnt sich. Und ich hatte auch das Gefühl, ich kann ihm helfen. Er hatte kein Heim, war irgendwie so in der Luft, und ich hatte das Gefühl, der braucht jemand, der einfach da ist mit ihm».
Rosenbaum schloss sein Studium in Bern im Sommer 1918 ab. Als vollwerter Jurist zog er wieder nach Zürich, zu Aline, die an der Plattenstrasse eine Wohnung gefunden hatte. Er wurde Generalsekretär des Städtischen Lebensmittelamtes. Gleichzeitig fand Alines Perspektive, doch noch eine Zukunft als Pianistin zu haben, ein abruptes Ende, weil sie sich bei einem Haushaltsunfall eine Handverletzung zugezogen hatte, die ihren linken Daumen leicht lähmte und die Spannweite Hand reduzierte. Umso wichtiger wurde für sie die Tätigkeit als Assistentin von Dr. Oczeret. Aline entzog sich dem libertären und promisken Betrieb der ,Oczeret’-Gemeinschaft; sie litt aber darunter, dass ihr Mann dabei mitmachte. Nur einmal, aber ausserhalb di9eser Gruppe, liess sie sich von einem sehr schönen jungen Tanzpartner zu einer erotischen Begegnung hinreissen. «Meinem Mann gestand ich das Geschehen. Was er dabei empfand, wurde mir nicht klar. Vielleicht war es ihm gleichgültig, wie er auch bei meinen späteren Freundschaften nie reklamiert hat. War er s grosszügig oder so uninteressiert? Wollte er gerecht sein, da er sich jede Freiheit erlaubte, mich nicht einengen? Hatte er sich die Ansichten des Meisters so zu eigen gemacht, passten sie so sehr zu seiner eigenen freien Natur, die sich jeder Fessel entwand, dass er wirklich alles recht fand, was gegen die alte Vorstellung der Ehe als Bindung verstiess?»
Bis hierher habe ich den Werdegang von Aline Ducommun und Wladimir Rosenbaum im Detail und getreu der Biografie von Peter Kamber nacherzählt. Es schien mir wichtig, dies alles als Grundlage dessen, was folgt, verstehen zu können. Die weiteren Phasen des Lebens der beiden fasse ich sehr summarisch zusammen, weil ich meine, dass es sich lohnt, sie vollständig selbst zu lesen, anstatt sie nacherzählt zu bekommen. Kambers Bericht ist sehr gründlich, manches gerät eher zu ausführlich als zu knapp (beispielsweise die Berichte über wichtige von Rosenbaum geführte Prozesse), aber immer lebendig und packend.
Rosenbaum wird als Anwalt und Strafverteidiger extrem erfolgreich, er gründet seine eigene Anwaltskanzlei, und er verdient sehr, sehr viel Geld. Er und Aline führen in der Stadelhoferstrasse 26 ein grosses Haus, beide engagieren sich in der Betreuung und Unterstützung zahlreicher Kulturschaffender, die aus Nazi-Deutschland fliehen und sich entweder in der Schweiz niederlassen wollen, oder die Schweiz als Zwischen- oder Erholungsstation auf ihrer Emigration in die USA, nach Israel oder Südamerika benutzen. Bei den Rosenbaums verkehrt ,tout Zürich’; Künstler, Schriftsteller, Schauspieler und Politiker.
1929 kaufen die Rosenbaums die ,Barca’, einen ziemlich verlotterten Palast im hintersten Onsernonetal, in Comologno, renovieren ihn und machen ihn zum gesuchten Zufluchtsort unzähliger Flüchtlinge.
Wladimir und Aline führen, wahrscheinlich noch infiziert von der Oczeret-Gemeinschaft, ein äusserst libertäres (Liebes)Leben. Beide unterhalten – in gegenseitiger Kenntnis und Duldung – zahlreiche Nebenbeziehungen, er in Form von laufenden Seitensprüngen, auch mit Freundinnen seiner Frau, sie in mehreren länger dauernden Liebesbeziehungen, und zusätzlich wohl auch in flüchtigen Begegnungen mit Emigranten, die sie unterstützte.
1936 putschte General Francisco Franco gegen die demokratisch gewählte republikanische Regierung Spaniens. Er wurde vor allem von den faschistischen Regierungen Deutschlands und Italiens mit Waffen und Soldaten massiv unterstützt. Ebenso unterstützten antifaschistische Kreise aus ganz Europa die gefährdete republikanische Regierung. Rosenbaum engagierte sich selbstverständlich für die Republikaner, indem er deren (heimlichen) Waffenkäufe finanzierte oder die erforderlichen Finanzströme ermöglichte und steuerte. Das war natürlich in der neutralen Schweiz strikt verboten. Rosenbaum wurde erwischt, kam vor Gericht und wurde verurteilt.
1936-37 führte der Bezirksanwalt Dr. iur. Otto Gloor, der in einem früheren Rechtsfall eine kapitale Niederlage gegen Rosenbaum, den Verteidiger des Angeklagten Näf, erlitten hatte, im Rahmen eines Prozesses um den Fall Seeburger, einen Rachefeldzug gegen Rosenbaum, bei dem letztlich der Entzug der Rechtsanwaltslizenz von Rosenbaum zur Diskussion stand. Beide Prozesse, die Waffenlieferungen nach Spanien und der Fall Seeburger, standen bereits unter dem ungünstigen Stern eines auch in der Schweiz grassierenden Antisemitismus. Gewisse Medien berichteten nur noch vom ,Jud Rosenbaum’ und vertraten die einhellige Meinung, dass ein Jude kein richtiger Schweizer sein konnte und umgekehrt. In grossem Umfang war die ganze Gesellschaft, einschliesslich des Rechtswesens und der Politik, vom Judenhass verseucht und insbesondere darauf bedacht, Hitlers Nazi-Clique ja nicht durch freundlichen oder rücksichtsvollen Umgang mit der jüdischen Bevölkerung oder deren Exponenten zu reizen. Getragen und getrieben von dieser abscheulichen Gesinnung brachte die öffentliche Schweiz Rosenbaum zum Ruin, zum Verlust seiner florierenden Anwaltsbüros, seines Einkommens und seiner Existenzgrundlage.
Rosenbaum war am Ende. Er verbrachte viel Zeit in der Barca im Onsernonetal oder in Ascona, wo er, durch Zufälle begünstigt, sich eine neue Existenz als Antiquitätenjäger und -händler aufbaute.
Aline und Wladimir liessen sich scheiden, gingen aber als Freunde auseinander; sie begegneten sich immer wieder, und Aline stand auch in den düstersten Zeiten des Niedergangs und der rechtlichen Verfolgung Rosenbaums zu ihm. Beide heirateten später erneut, führten aber ein zunehmend weniger spektakuläres Leben.
Rosenbaum gelangte im Rahmen der obskur-verworrenen und verwirrenden Thiel-von-der-Heidt-Affäre nochmals in die Mühlen der Justiz, verbrechte mehrere Monate in Untersuchungshaft, wurde aber schliesslich freigesprochen.
Peter Kambers Biografie trägt den bescheidenen Titel «Geschichte zweier Leben». Es ist jedoch eine Geschichte, die es in sich hat. Sie handelt von Krieg und Frieden, von unglaublichen gesellschaftlichen Umwälzungen; von einer beschämenden Zersetzung der Schweiz durch Antisemitismus und Judenhass; aber auch von Liebe, Freiheit und Schenken von Freiheit sowie von der Schwierigkeit, und vom Mut, den es braucht, Konventionen zu überwinden. Das Leben von Wladimir Rosenbaum und Aline Valangin ist ein eindrückliches Kondensat dieser Entwicklungen und exemplarisch für das Suchen von Menschen nach sich selbst, nach der Wahrheit und nach dem richtigen Leben.