
Der Autor dieses kleinen Montaigne-Breviers, Professor am Collège de France und an der Columbia University NY, fasst darin rund 40 Kurzvorträge über Montaigne zusammen, die er – widerwillig – während der Sommerferiensaison auf Radio France Inter gehalten hat.
Es handelt sich um eine Serie von willkürlich ausgewählten Zitaten aus Montaignes Essais und den Erläuterungen Compagnons zum Stellenwert der Zitate, sowie zu deren Einordnung in Montaignes Weltsicht.
Die Lektüre bereitet dem Leser einen kurzen, aber spannenden und viel verheissenden Schlüssellochblick in Montaignes Lebensphilosophie und Arbeitsweise – kurz: sie ist ein Appetitanreger auf ‚mehr Montaigne‘.
Besonders interessant fand ich die beiden Exkurse Montaignes zur Frage, warum Gesellschaften schwach werden, und zur Frage, warum es sich kaum oder selten lohnt, Neues zu wagen. Bei der ersten Frage ist Montaignes Antwort: je höher entwickelt, kultivierter oder zivilisierter eine Gesellschaft ist, desto schwächer und unfähiger wird sie, sich zu verteidigen. Bei der zweiten Frage denkt Montaigne in die gleiche Richtung wie Odo Marquard, der postuliert, dass sich grundsätzlich das Neue gegenüber dem Bestehenden zu rechtfertigen hat, und dass Neuerungen meistens mit soviel Unruhe, Umwälzungen oder gar Revolutionen verbunden sind, dass dabei auch ein allfälliger Gewinn gegenüber dem Istzustand vernichtet wird. Ich finde es beachtlich, dass ein Renaissance-Mensch wie Montaigne schon im 16. Jahrhundert solche Einsichten formulieren konnte.
In jedem Fall ist das kurze Brevier (knapp 170 Seiten) sehr lesenswert und ein starker Anreiz, die Gesamtausgabe der Essais von Montaigne auf die ‚to read‘-Liste zu nehmen.