
«Ein ganzes Leben» zeigt – wie mein Seethaler Erstling «Der Trafikant» (siehe meine Besprechung 2016-07) – Seethalers sprachliche Souveränität. Der Roman liest sich entsprechend flüssig und leicht.
Zwischen «Der Trafikant» und «Ein ganzes Leben» bestehen einige Ähnlichkeiten, die wahrscheinlich die Themenpräferenz oder -fixierung Seethalers illustrieren. Beide Romane beginnen in den 1930-er Jahren; in beiden ist die Hauptperson ein Junge aus dem österreichischen Alpenraum; im ersten einer, der nach Wien verpflanzt wird und dort das Handwerk eines kleinen Zeitungs- und Kioskladens lernt und dann in den Sog der ‚Nazifizierung‘ Österreichs gerät; im zweiten ist es – nach schweizerischem Verständnis – ein Verdingbub, der ohne nähere Herkunftsinformationen aus einem abgelegenen Alpental in ein anderes ‚verkauft‘ wird, dort von dem Bauern, der ihn erwirbt, ausgebeutet und zum hinkenden Krüppel geschlagen wird; er wird allerdings so gross und stark, dass er als Jüngling sich von seinem Peiniger befreien kann. Er wird dann Gelegenheitsarbeiter, Taglöhner und findet schliesslich eine Anstellung bei einem Unternehmen, das damit beginnt, die Alpentäler im Hinblick auf den aufkommenden Bergtourismus mit Transportanlagen zu überziehen. Im zweiten Weltkrieg wird er, als er sich als Patriot freiwillig für die deutsche Armee meldet, zunächst zurückgewiesen, aber gegen Kriegsende, trotz seines Altes (er ist bereits rund 45) eingezogen und im Kaukasus eingesetzt. Nach einer langjährigen Kriegsgefangenschaft kommt er zurück, wird Berg- und Tourenführer, zieht sich aber mehr und mehr zurück und stirbt schliesslich in seinem Refugium, einer sehr rudimentären verlassenen Alphütte.
Seethaler erzählt diese Geschichte, wie übrigens auch die des Trafikanten, völlig teilnahmslos, ohne irgendeine emotionale Bindung zu den handelnden Personen oder zur Zeitgeschichte. Der Anschluss Österreichs an Grossdeutschland ist etwas, das halt einfach so passiert, wie ein Gewitter, oder ein Unfall beim Holzschlagen im Wald, oder wie ein Schnupfen im Winter; ein Verdingschicksal – so what, Pech gehabt. Das ist einerseits sehr erträglich, weil nicht ständig die Moralkeule geschwungen wird, auf Dauer aber auch ermüdend und abstumpfend.
Vom Inhalt her ist «Ein ganzes Leben» gewöhnungsbedürftig – für mich eher eine NA-Erfahrung; die Geschichte ist weder spannend, noch lustig, noch hat die Erzählung einen besonders künstlerischen Wert (sie ist streng chronologisch linear), noch kann man sich in die handelnden Personen hinein fühlen, noch hat sie eine Moral, noch ist sie für unser heutiges Leben oder für die Zukunftsgestaltung irgendwie relevant.
Fazit:
Sprachlich stark, aber überflüssig!