
«Die Schatten» ist ein Thriller in bekannter Anderegg’scher Tradition. Er ist der 14. Fall, in dem Hauptkommissarin Chris Roberts mit ihrem Team schon fast buchstäblich die Welt vor einem katastrophalen Abstieg rettet. Da es ein Thriller ist, ist an dieser Stelle die Lüftung des Geheimnisses, wohin dieser Niedergang führen soll, natürlich nicht gestattet. Aber Leserinnen und Leser von Andereggs bisherigen Thrillern liegen sicher nicht falsch, wenn sie auch von «Die Schatten» erwarten, in ein Komplott zu geraten, in welchem brandaktuelle technische Entwicklungen, welche gegenwärtig Politik, Wissenschaft und Gesellschaft beschäftigen, und beängstigen, eine zentrale Rolle einnehmen.
Wie bei Anderegg üblich, jagt der Plot der Geschichte prestissimo über zahlreiche Schauplätze, vornehmlich in der Schweiz, Österreich und Deutschland. Dass Anderegg dabei Andermatt zum Ausgangspunkt und Klimax des Handlungsfadens spinnt, hat nicht nur bescheidenen Kalauer-Charakter, macht das Buch für Schweizer Leserinnen und Leser unmittelbar erlebbar und durch die wohl nicht ganz zufälligen Anspielungen auf die hiesige TV-Serie «Wilder» auf Anhieb vertraut. Ausserdem wird die prominente Rolle, die eine Bar eines Andermatter Luxushotels spielt, den Investor Sawiris sicher freuen.
«Die Schatten» besteht im Kern aus drei Geschichten. In der ersten wird die politische Landschaft Deutschlands und Österreichs durch eine Serie unerklärlicher Morde verunsichert und verängstigt. In der zweiten Geschichte wird das Geheimnis der Hintermänner dieser Verbrechen gelüftet, und in der dritten erreicht der Plot seinen Klimax, weil manifest wird, dass die ursprünglich zufällig und zusammenhanglos erscheinenden Verbrechen einen roten Faden haben, der einen totalen Umsturz der bestehenden politischen Ordnungen und Systeme zum Ziel hat.
Anderegg stellt den Kräften, die diesen Umsturz anstreben, ein im besten Sinn des ,woken’ Modeworts diverses Quartett gegenüber:
- die allen Anderegg-Fans wohlbekannte BKA-Hauptkommissarin Chris Roberts
- und ihren Assistenten Joshi Tanaka, der sie mit seiner als alter Fiat getarnten alleskönnerischen KI praktisch aus jeder Patsche herausholt;
- Toni Gruber, den Sohn des in Andermatt scheinbar durch Selbstmord verstorbenen Wiener Investigativ-Journalisten Viktor Gruber; aber dank der Beharrlichkeit und Widerborstigkeit der jungen Urner Polizistin Claudia, die sich dem Schweizer Fernsehen problemlos als rustikal-alpine Detektivin empfehlen könnte, wird Grubers Tod als Mordfall identifiziert; die Biografie seines Sohns Toni, der sich zum Ziel setzt, die Hintergründe des Tods seines Vaters aufzuklären, ist atemberaubend: vom brillanten Informatik-Studenten, der sein Studium aus Langeweile abbricht, mutiert er zum artistischen Baggerführer (der auf dem Bau von seinen robusten Kollegen wegen seines feinen Aussehens den Kosenamen ,Antonia’ erhält) und brilliert er in den «Schatten» als abenteuerlicher Detektiv, der nicht nur gekonnt einbrechen kann, sondern auch als heldenhafter Krieger seinem Team so unentbehrliche Hilfe leistet, dass man ihn sich gut als Agent weiterer Anderegg-Thriller vorstellen kann;
- sowie schliesslich den als Verbindungsoffizier der Schweiz bei Europol ,auf Eis gelegten’, also eigentlich abgehalfterten Mike Matter.
Der Kontrast zwischen diesem ,herzigen’ Quartett und der geheimen, aber alle politischen Ebenen durchdringenden und zu aller Gewaltanwendung bereiten kriminellen Gruppierung, die den Umsturz der gegebenen politischen Ordnung vorantreibt, wirkt nicht sehr überzeugend. Und dass dieser zusammengewürfelten Gruppe die Überwältigung der umstürzlerischen Kräfte (deren treibende Kraft gemäss einer kurzen Anspielung Andereggs Russland sein soll) gelingen soll, ist einerseits äusserst unwahrscheinlich. Anderseits ist gerade der Gegensatz zwischen der Macht der ,Guten’, welche die Welt retten wollen, und derjenigen der ,Bösen’, die deren Untergang anstreben, reizvoll und durchaus sinnbildlich für die Wirklichkeit, in der wir leben: die Kraft der Einzelnen, die sich für die Bewahrung der gesellschaftlichen Werte, welche das Fundament unserer freiheitlichen Gesellschaft sind, einsetzen, ist letztlich stärker als die zerstörerische und verbrecherische Kraft der Bösen, die deren Untergang betreiben.