
Dirk Schümer spinnt den roten Faden von Umberto Ecos «Der Name der Rose» (Zusammenfassung der Handlung siehe Besprechung «Die Schwarze Rose», 2023-10) weiter, nach seinem «Die Schwarze Rose» jetzt mit seinem Zweitling «Die Schwarze Lilie».
Der Roman schildert das Leben im Florenz des 14. Jahrhunderts, genauer in der Zeit um 1348, als in Florenz die Pest herrschte, der grosse Teile der Bevölkerung zum Opfer fielen, soziale Strukturen auseinanderbrachen, und die der blühenden Wirtschaft (Finanzen, Textil, Handel) dem Untergang nahebrachte. Da der Autor Germanistik, Philosophie und mittelalterliche Geschichte studiert hatte (die er zu seinem Hobby machte), darf man wohl annehmen, dass seine Schilderung des Lebens in den verschiedenen gesellschaftlichen Schichten – bei aller kreativen Fiktionslust – weitgehend die tatsächlichen Gegebenheiten der Periode widerspiegelt. Als Leser profitiert man deshalb nicht nur von einer unterhaltsamen und spannenden Kriminalgeschichte aus dem 14. Jahrhundert, sondern auch von der detailreichen Schilderung des Lebens in einer der wichtigsten und bedeutendsten italienischen Städte dieser Periode, von der Schilderung des Aufstiegs und Falls sowie dem Konkurrenzkampf unter den florentinischen Geldhäusern und von der Bedeutung dieser Städte am Beginn der Renaissance.
Dirk Schümer erzählt die frei erfundene Kriminalgeschichte prall, fantasievoll und spannend. Er lässt periodengerecht Persönlichkeiten, die damals wie etwa Boccaccio wirklich in Florenz lebten, auftreten und gibt sogar dem versoffenen Sohn Dantes eine grosse Bühne. Sein Hauptheld, der deutsche Wittekind Tentronk, der für ein Florentiner Bankhaus als Agent für spezielle Aufgaben wirkt, ist ein vielseitiges Renaissance-Genie, der als ehemals angehender Dominikaner sich bestens in Religion und Philosophie auskennt, spricht auch fliessend alle gängigen Sprachen Europas und kennt aus eigenen Reisen und Abenteuern die ganze damals – in eurozentrischer Sicht – bekannte Welt. Er erlaubt sich dabei auch den Spass, Tetronk mit William von Baskerville, Ecos Hauptfigur in «Der Name der Rose» wieder zusammentreffen zu lassen, nachdem die beiden sich seit ihrer Begegnung von vor über 20 Jahren aus den Augen verloren hatten. Schümers Stil, Humor und Sprachkunst sind durchaus auf der Höähe seines Vorbilds, d.h. Ecos «Name der Rose».
Schümer beschreibt im Detail das alltägliche Leben aller Bevölkerungsschichten und macht seinen Lesern und Leserinnen bewusst, dass der Reichtum von Florenz und seinen herrschenden Familien einen Unterbau brauchte, in dem Elend und Armut herrschten. Dadurch wird sein Roman auch ein gutes Lehrstück über die sozialen Verhältnisse, die zwar die heute so bewunderten Renaissance-Kunstwerke und -Bauten hervorbrachten, aber durch all das, was heutige Touristen bewundern, verdeckt sind.
«Die Schwarze Lilie» ist ein vergnügliches, unterhaltsames, spannendes und gleichzeitig äusserst historisch informatives Buch, dessen rund 600 Seiten Lesestoff sich wirklich lohnen.