Die Durcheinanderwelt – Irrwege und Lösungsansätze

Die Durcheinanderwelt – Irrwege und Lösungsansätze
Kaspar Villiger (alt-Bundesrat), 2018-13

(siehe als ‚Kontrastprogramm‘ auch Besprechung 2018-12)

Villigers Betrachtungen sind ein wohltuender Kontrast zu Geiselbergers Essay-Sammlung; er schreibt handfest, d.h. weitgehend ohne Politologen- oder Soziologenjargon, einfach und verständlich, legt explizit dar, auf welcher ‚Wertebasis‘ er argumentiert, und erklärt jedenfalls gelegentlich, was er unter welchen Begriffen versteht. Der einzige formelle Makel ist Villigers Manie, fast alle wichtigeren Aussagen durchzunummerieren; die einzige Steigerungsmöglichkeit wäre dabei, seine Analysen in Form einer dezimalklassifizierten Tabelle zu präsentieren.

Aber inhaltlich bleibt Villiger beim Wesentlichen und Relevanten. Seine drei Essays befassen sich mit dem Zustand der Durcheinanderwelt (deplorabel), mit Grundlagen und Grenzen von Nationalstaaten, sowie mit dem Zustand der EU (Krankheit) und einem 10-Punkteprogramm zur Revitalisierung der EU. Im Schlusskapitel (vermutlich aus dem aktuellen Anlass der Verleihung des Freiheitspreises der Friedrich-Naumann-Stiftung) an Villiger im Nachhinein angehängt) befindet sich eine Art Dankesrede für die Preisverleihung mit dem Titel «Étuden zur Freiheit».

Die Analysen Villigers leuchten ein und machen Leserinnen und Leser – jedenfalls mich – tendenziell depressiv. Seine ‚Rezepte‘ (er selbst würde wahrscheinlich diese Bezeichnung ablehnen und insistieren, dass er nur von Lösungsansätzen spricht) verströmen verhaltenen Optimismus. Aber in Verbindung mit Villigers zahlreichen Hinweisen, dass diese Rezepte schwer umzusetzen sind, und welche Hindernisse einer Umsetzung im Wege sind, steht dieser Optimismus auf etwas wackligen Füssen. Als Leser wird man zwar dank Villiger um einiges klüger, bleibt jedoch ziemlich ratlos.

In einem speziellen Punkt vermisse ich eine klare Äusserung Villigers: einerseits stellt er (im Essay über die Durcheinanderwelt) fest, dass ‚enttäuschte Erwartungen‘ der Bürgerinnen und Bürger einer der Hauptgründe für die zahlreichen empfindlichen Rückschläge der Demokratie sind (als Beispiele nennt er Länder, die man nicht spontan als Muster für Demokratien sehen würde, also z.B. Russland, die Türkei, Venezuela oder Ägypten). Für mich erleben auch Länder wie Frankreich (Front National), England (Brexit), Deutschland (AfD), USA (Trump und seine abgehängten Anhänger) oder Italien (Aufkommen von Lega und Cinque Stelle) empfindliche Rückschläge der Demokratie, die auf enttäuschte Erwartungen zurückzuführen sind. Hier sehe ich die Gründe darin, dass der Bevölkerung durch verantwortungslose Politiker von links und rechts seit Jahren oder Jahrzehnten eingepaukt wird: Globalisierung ist schlecht; Wirtschaft ist Abzocke; ungleich ist ungerecht; die Schere zwischen arm und reich öffnet sich immer mehr; Einwanderer sind Verbrecher und Schmarotzer; ‚links‘ ist gut und per se progressiv und gut, und ‚rechts’ – oder konservativ – ist rückständig; Gewinne, Grenzen oder generell ökonomische Kriterien (die vom Teufel erfundene Ökonomisierung) sind unmoralisch; etc. Die gleichen verantwortungslosen Einpauker versprechen einfache und schnelle Lösungen, die sie aber noch nie gebracht haben; letztlich versprechen sie die Wiederherstellung des Paradieses (also paradoxerweise etwas, das per definitionem äusserst rückwärtsgewandt oder konservativ ist (nach dem Motto ‚rückwärts in die Zukunft’. Damit werden – bewusst? – Erwartungen geweckt, die unerfüllbar sind und deshalb zwangsläufig zu Enttäuschungen führen. Ich bin überzeugt, dass hier eine Brache vorliegt, die leider von den wirklich progressiven Kräften nicht oder viel zu wenig bewirtschaftet wird; es hat niemand mehr den Mut, den Menschen zu sagen: hört nicht auf die Schalmeienklänge der ‚Paradiesversprecher‘; die Welt ist keine Gerechtigkeitsveranstaltung; Ungleichheit ist das natürlichste Phänomen unserer Welt; die Tatsache dass einer mehr hat als andere, ist völlig irrelevant, solange niemand zu wenig hat; Armut ist das Problem, nicht Ungleichheit.

Trotzdem: Ich würde allen, welche sich ideologiefrei und ohne Scheuklappen mit dem Zustand unserer ‚Durcheinanderwelt‘ befassen wollen, die Lektüre von Villigers Essays zur Pflicht auferlegen.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert