Deutungshoheit

Deutungshoheit

Früher, d.h. bis ins Zeitalter der Aufklärung und der daraus folgenden Säkularisierung, brauchten die Menschen nicht darüber nachzudenken, wer die Deutungshoheit innehatte: der Klerus oder dessen Cousins, Schamanen, Medizinmänner, Kräuterhexen oder Zauberer.

Heute – jedenfalls in der ,abendländischen’ Gesellschaft – ist den Menschen diese institutionalisierte Gewissheit abhanden gekommen. Für die einen ist das ein Werteverlust, für andere ist das ein Freiheitsgewinn, für noch andere ist das die Rechtfertigung der Beliebigkeit.

Aber sogar die Apostel der Beliebigkeit brauchen Instanzen, welche die Deutungshoheit ausüben. Jemand muss schliesslich vorsagen, was ,politisch korrekt’ ist, was ,in’ ist, was ,Zeitgeist’ und ,Mainstream’ oder gar ,woke’  ist, und wo und wann man ,pfui’ zu sagen hat.

Darum findet um die Deutungshoheit ein ständiger Positionskampf statt. Dieser Kampf findet in erster Linie auf der Ebene der Sprachhoheit statt. Wer die Schlüsselbegriffe, welche die Gemüter der Bevölkerung bewegen, ,richtig’ und vor allem als Erster besetzt, gewinnt. Beispiele für solche Schlüsselbegriffe: Sozialabbau, GerechtigkeitSolidarität, Fortschritt/fortschrittlich (vornehmer: progressiv), konservativ (d.h. rückständig, verbohrt), Gier der Manager, neoliberal, Turbokapitalismus, etc.

Sinngemäss gleich, jedoch im umgekehrten Sinn, ist mit Begriffen zu verfahren, die ,Deinem’ Programm entgegenstehen. Diese Begriffe sind so negativ zu besetzen, dass die Bevölkerung darin reflexartig ,Feindbilder’ erkennt. Bspiele für solche begriffliche Mauerblümchen, die dank ihrer Negativbesetzung nur Abwehr auslösen, d.h. keine Kraft entfalten können, gesellschaftlich bedeutungslos geworden sind und jegliche Mobilisierungskraft verloren haben, sind: FreiheitEigenverantwortung, Wirklichkeit, Bezahlbarkeit, gesellschaftliche Nachhaltigkeit, Generationensolidarität.

Im Zusammenhang mit dem Kampf um die Deutungshoheit haben die Medien einen herausragenden Einfluss, nicht so sehr, indem sie aktiv Deutungshoheit ausüben, sondern indem sie die für die Deutungshoheit ausschlaggebenden Schlüsselbegriffe in derjenigen Bedeutung, die diesen von den Hohepriestern der Deutungshoheit gegeben wird, unkritisch, unreflektiert und unablässig verwenden. Dadurch üben sie eine Multiplikatorenrolle aus, welche einseitig die ,Besetzer’ der Schlüsselbegriffe und damit die Inhaber der Deutungshoheit unterstützt.

Und da Medien und Medienschaffende sich selbst gerne als ,progressiv’ sehen, ist es nur folgerichtig, dass sie bei Auswahl, Gewichtung und Verwendungshäufigkeit der Schlüsselbegriffe diejenigen der ,progressiven’ Hohepriestern der Deutungshoheit bevorzugen.

Per Saldo sind die Regeln zur Erlangung der Deutungshoheit sehr einfach:

  1. Definiere die Schlüsselbegriffe, deren Deutungshoheit Du erlangen willst: das sind Begriffe für diejenigen Anliegen, die Dir in erster Linie am Herzen liegen; begrenze Dich dabei auf höchstens etwa 10 Begriffe, die aber so weit zufassen sind, dass ,Dein’ Programm inhaltlich und emotional davon abgedeckt wird.
  2. Verwende dabei Begriffe, die ,sympathisch’ und ,progressiv’ wirken und umgangssprachlich bereits intuitiv so interpretiert werden, dass sie mit Deiner Wunschdeutung konvergieren.
  3. Wiederhole diese Begriffe in der Deutung Deiner Definition unablässig.
  4. Sorge dafür, dass ,Gegner’, die solche Begriffe anders interpretieren oder andere Begriffe als Deutungs-relevant in den Vordergrund stellen wollen, negativ qualifiziert werden, z.B. indem sie als kalt, unbarmherzig, mitleidlos und böswillig dastehen.
  5. Gewinne die Medien und alle Intellektuellen, die natürlich auch ,progressiv’ sein wollen, beziehungsweise ex officio ,progressiv’ sind, Deine Schlüsselbegriffe immer wieder in Deiner Interpretation zu verwenden.
  6. Sorge dafür, dass Begriffe, die ,Deinem’ Programm entgegenstehen, möglichst selten auftauchen, und wenn schon, dann immer in negativer Deutung.

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