Das feine Schweigen – Historische Essays

Das feine Schweigen – Historische Essays
Fritz Stern, 2016-11

Fritz Stern, 1926 in Breslau als Sohn jüdischer Eltern geboren, emigrierte 1938 in die USA. Er ist emeritierter Professor der Columbia University. Er beschäftigte sich vor allem mit deutscher und europäischer Geschichte und publizierte zahlreiche weltweit anerkannte Werke über die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Sein Werk und sein Wirken wurden mehrfach mit Preisen ausgezeichnet; als Krönung seines Wirkens erhielt er 1999 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. 

Die im vorliegenden Band publizierten Essays wurden erstmals zwischen 1993 und 1998 publiziert. Sie entstanden also nach der Wende, aber noch vor den anschliessenden historisch bedeutsamen Ereignissen wie 9/11, «Al Kaida und IS», Arabischer Frühling, Weltfinanzkrise, europäische Schuldenkrise, Krimannexion durch Russland und Ukrainekrieg, oder der aktuellen (2016) Flüchtlingskrise.

Stern gibt einen hervorragenden und sehr fundierten Überblick über die Ereignisse, geistigen Faktoren und agierenden Personen, die letztlich zu den Katastrophen des 20. Jahrhunderts führten (Erster und Zweiter Weltkrieg, Grundlagen des Faschismus und des Kommunismus und Ähnlichkeiten der beiden Ideologien, Unterschied zwischen Patriotismus und Nationalismus).

Er legt den Hauptakzent auf das Schweigen, mit dem von den europäischen Geisteseliten den negativen und mörderischen Entwicklungen dieser Epoche begegnet wurde, teilweise aus Feigheit und Eigennutz, teilweise erzwungen durch gezielte staatliche Manipulation und Gewalt.

Stern legt plausibel dar, dass viele der schrecklichen Ereignisse wohl verhindert worden wären, wenn die Schlüsselpersonen und geistigen Autoritäten weniger geschwiegen hätten. 

Sein Ausblick auf die Zukunft Europas ist zwar eher vage, aber alles andere als optimistisch. 

Mein Fazit ist eine Bestätigung der alten Erkenntnis, dass eine Gestaltung der Zukunft nicht möglich ist, wenn sie nicht auf gründlicher und verstehender Kenntnis der Vergangenheit aufbaut. Frei nach Odo Marquard «Zukunft braucht Herkunft.»

Persönliche Würdigung

Aus meiner Sicht hängt das ‚feine Schweigen’ sehr direkt mit der jeweiligen Herrschaftsform der Staaten, in denen es zu den Katastrophen des 20. Jahrhunderts beigetragen oder geführt hat. In all diesen Staaten, besonders ausgeprägt in Deutschland, herrschten während Jahrhunderten absolutistische, autokratische und ans Diktatorische grenzende Herrschaftssysteme. Diese verunmöglichten das Entstehen von Gesellschaften, in denen die friedliche, durchaus auch polemisch geführte politische Auseinandersetzung nicht nur möglich, sondern der politische Alltag war. Im Gegenteil: Personenkult, pompöse Selbstdarstellung der Eliten, das Entstehen kleiner Gruppen, welche die Herrschaft unter sich aufteilten und von Generation zu Generation vererbten, blühten. Medien, die sich nur nach den expliziten und impliziten Wünschen und Vorgaben ‚des Kaisers’ richteten, oder Schulen und höhere Bildungs-Institutionen, die sich in erster Linie als ‚nationale Erziehungsanstalten’ verstanden, waren die Regel. Schweigen war Pflicht; Reden, Anprangern und Blossstellen waren Majestätsbeleidigungen.

Verkürzt ausgedrückt: Ohne Politische Strukturen, die nach dem Prinzip der Subsidiarität von unten nach oben aufgebaut sind, in denen die Macht über die finanziellen Mittel des Staates und die Entscheidungsbefugnis über die Verteilung von Ressourcen auf verschiedene Ebenen verteilt war, wobei den Bürgerinnen und Bürgern auf jeder Ebene adäquate Mitwirkungsrechte und -pflichten zustehen, wächst keine Zivilverantwortung (bürgerliche Verantwortung); ohne Zivilverantwortung keine Zivilcourage. Das ‚feine Schweigen’ ist ein Euphemismus für fehlende Zivilcourage  

Leider geht Stern auf diesen Aspekt, d.h. auf die tieferen Wurzeln des ‚feinen Schweigens’ kaum ein. Dies erstaunt, weil Stern ja durch seine US-amerikanische ‚Sozialisation’ durchaus hätte darauf kommen können, Europas politische Kulturen, zu denen eben dieses feine Schweigen gehört, mit der amerikanischen Gesellschaft zu vergleichen. Dabei hätte er wohl auch darauf kommen müssen, dass dort der Hund begraben ist. Dies wäre wichtig, weil daraus wesentliche und nützliche Erkenntnisse für die Weiterentwicklung der europäischen politischen Ordnung, auch für die EU und deren Aussenbeziehungen zu gewinnen wären.

Auch ein Blick auf die Beobachtungen von Alexis de Tocqueville hätte helfen können.

Als unbescheidener Aussenstehender ziehe ich daraus den Schluss: Die Tatsache, dass nicht einmal ein Fritz Stern, der sich mit dem Phänomen des ‚feinen Schweigens’ sehr breit, gründlich, rational und geschichtsbezogen auseinandersetzt, die Bedeutung von politischer Struktur, Dezentralisierung, Subsidiarität als Wurzel für das ‚feine Schweigen’ behandelt, illustriert, wie schwierig es für eine in einem autokratischen System sozialisierte Gesellschaft sein muss, die Denkgrenzen, welche ein solches autokratischen System in den Köpfen seiner Bürgerinnen und Bürger zieht, zu überwinden, oder nur schon in Frage zu stellen.

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