Die NZZ vom 4. Oktober 2012 enthält den Artikel «Der Schmerz gehört dazu» (Seite 17); auf einer vollen Seite berichtet er über Piercings, Ziernarben, gespaltene Zunge, Implantate, Tätowierungen und Ähnliches. Dank einer Kombination von völlig emotionsloser Berichterstattung und abstossenden Fotos entsteht beim Leser ein Eindruck von hilflosem Ekel und Schock.
Der Sammelbegriff für diese freiwilligen Verstümmelungen ist ‚body modification’. Man fragt sich aufgrund des Texts unwillkürlich, wie lange es noch dauern wird, bis dieser Begriff zu ‚body enhancement’ oder noch besser zu ‚integral human enhancement’ emanzipiert.
Der Artikel sucht nämlich durchaus auch eine Antwort auf die Frage, wie Menschen dazu kommen, sich solche weitgehend irreparable Schäden anzutun?
Die verblüffenden Antworten: Selbstverwirklichung, eine Form der Selbsttherapie, Stärkung des Selbstwerts oder des Selbstbewusstseins, Verarbeitung negativer Lebensereignisse wie Trennung, Krankheit, Tod oder Trauma.
Die alles entwaffnende Begründung liefert eine an der Universität Zürich promovierte Psychologin mit ihrer Studie «Body Modification: psychologische Aspekte von Piercings und anderen Körperveränderungen». Sie «plädiert für Toleranz. Sie hält ausserdem fest, alle Arten von Boy Modifications würden in verschiedenen Kulturen schon seit Urzeiten praktiziert.» Offenbar spielt es bei dieser Begründung keine Rolle, dass in den angesprochenen Kulturen ,body modifications’ in aller Regel ausschliesslich im Zusammenhang mit – aus heutiger Sicht – völlig irrationalen Kulthandlungen oder kriegerischen Auseinandersetzungen durchgeführt wurden, und dass der heutige Zeitgeist, der sich ausnahmsweise einmal auf eine frühere Evolutionsstufe der Menschheit beruft, dazu keinerlei Beziehung mehr hat.
Sei’s drum – endlich ein Grund, wieder Hexenverbrennungen durchzuführen, und dafür noch Toleranz einzufordern. Wie würde die Psychologin wohl reagieren, wenn jemand heute mit Bezug auf frühere Kulturen für kultische Menschenopfer, für die Unterdrückung der Frau, für das Willkürregime von ,Stammesfürsten’ oder für die Terrorisierung ganzer Gesellschaften durch Aberglauben und Hokuspokus plädieren würde?
Was der Artikel nicht anspricht, sind folgende weiteren Aspekte:
- Besteht ein Zusammenhang zwischen ,body modifications’ und Milieu der ,Modifizierten’, Bildungsferne, Bildungsniveau, Arbeitslosigkeit und Abhängigkeit von Sozialhilfe?
- Welchen Diskriminierungen sind Menschen mit ,body modifications’ ausgesetzt?
- Wie finanzieren (monetär und zeitlich) – vor allem junge – Menschen ihre ,body modifications’, zulasten von was?
- Wie häufig sind Fälle von medizinischen Komplikationen, wie hoch sind die entsprechenden Behandlungskosten (inklusive Arbeitsausfälle), wer zahlt?
Wie häufig kommt es vor, dass Menschen mit ,body modifications’ später im Leben den Wunsch bekommen, ihre ,modifications’ rückgängig zu machen? Zu welchen Kosten? Wer zahlt? Wer liefert die Rechtfertigung (im Klartext, die ärztlichen Verschreibungen), sofern am Ende die Gesellschaft dafür zahlen muss (Krankenkassen oder -versicherungen)?