Aus dem Wald hinausfinden – ein Gespräch mit Caspar Shaller

Aus dem Wald hinausfinden – ein Gespräch mit Caspar Shaller
Margaret Atwood, 2022-04

Das Buch gehört in die Reihe ,Salon’ des Verlags Kampa; im Salon werden Künstler aus allen Sparten des kulturellen Lebens porträtiert. In diesem Band führt Caspar Shaller auf rund 150 Seiten ein Gespräch mit Margaret Atwood, das die 80-jährige Autorin ihr Leben und Werk sowie die Rolle der Kunst und des Künstlers in der Gesellschaft reflektieren lässt. Shaller, exakt 50 Jahre jünger als seine Gesprächspartnerin, ist (gemäss Klappentext) «freier Journalist und schreibt regelmässig für Die ZeitDas Magazin und Die Wochenzeitung – am liebsten über die Zukunft der Menschheit, sei es in politischen Kämpfen, aus wissenschaftlicher Perspektive oder als literarische Fiktion».

Es gelingt Shaller, Margaret Atwood sehr persönliche Aussagen und Bekenntnisse zu entlocken. Sie begegnet dem Leser oder der Leserin plastisch als Persönlichkeit, die sehr selbstbestimmt, eigenwillig und extrem breit an allem interessiert ist, was die Menschen bewegt und antreibt. Atwoods Biografie ist weder gradlinig noch zielstrebig. Ihre prägenden Kindheitsjahre erlebt sie im Kontext der Forschungstätigkeit ihres Vaters in den Wäldern Quebecs (wo sie auch lernte – siehe Buchtitel – wie man aus dem Wald wieder herausfindet). Daran schliessen sich Ausbildungsjahre in der Millionenstadt Toronto sowie in Harvard an, in denen sie bereits erste literarische Werke (Gedichte) publiziert. Dann folgen Ansätze einer akademischen Laufbahn mit Lehraufträgen in Vancouver, Montréal und Toronto. Der Universitätsbetrieb stösst sie allerdings ab. Inwiefern ihre frühen Erfolge als Autorin den Abschied aus der akademischen Welt erleichtern, bleibt offen. Jedenfalls wird sie noch vor ihrem dreissigsten Lebensjahr ,vollamtliche’ Schriftstellerin; sie schreibt extrem vielseitig, d.h. sie publiziert in praktisch allen literarischen Sparten: Poesie, Romane, Science Fiction, Kinderbücher, Erzählungen, Sachbücher, Drehbücher und sogar Comics (die Graphic Novel Angel Catbird, 2016).

Atwood scheut sich überhaupt nicht, gegen den Strom zu schwimmen und mit Aussagen den ,woke’ Zeitgeist gegen sich aufzubringen. Eine Schlüsselpassage (Seite 93ff) illustriert den Kern ihrer Persönlichkeit.

Frage Caspar Shaller:

Sie wehren sich also dagegen, als feministische Autorin bezeichnet zu werden, weil Ihnen solche Beschreibungen und Zuschreibungen nicht exakt genug sind. Aber sehen Sie sich nicht dennoch als Teil einer grösseren Bewegung, wie der Feminismus eine ist?

Antwort Atwood:

Sehen Sie, ich gehöre einer noch älteren Generation an als die zweite Welle der feministischen Aktivistinnen der Sechziger- und Siebzigerjahre. Und: Ich bin kein Herdentier. Schriftsteller sind oft keine Herdentiere. Vielleicht ist es genauer zu sagen, Autoren von Romanen und Gedichten sind in der Refel keine Herdentiere. Schriftsteller, die Bücher über Philosophie oder Soziologie oder so etwas schreiben, richten sich oft gerne an einer Gruppe aus. Ich bin Aussenseiterin aufgrund meiner Erziehung sowie aufgrund meiner Profession. Ich bin nicht in einer kleinen, eng verwobenen Gemeinschaft aufgewachsen, und das bedeutet, dass ich einen Scheiss darauf gebe, was andere Leute über mich denken. Und das ist ein Vorteil.

Menschen, die sich Feministinnen nennen, sind oft wütend auf mich geworden, weil ich auch Frauen porträtiere, die schlechte, bösartige, grausame oder einfach nur fehlbare Menschen sind. Ich porträtiere Frauen schlicht als Menschen. Sie sind nicht entweder gut oder böse. Frauen verhalten sich nun einmal nichzt ständig als Engel. Und wenn wir es täten, wäre uns allen todlangweilig. Aber diese Ambiguität ist für immer mehr Menschen schwer auszuhalten.

Schriftsteller gelten dabei als besonders verdächtig: Wir sind weder für die Rechte noch für die Linke akzeptabel, weil wir über Menschen schreiben, und Menschen sind nun einmal moralisch nicht eindeutig in ein Schema zu packen. Das Ziel der Ideologen, die heute überall auftauchen, ist es, diese Unklarheiten zu beseitigen.

Frage Caspar Shaller:

Warum interessieren Sie sich so sehr für menschliche Fehler?

Antwort Atwood:

Ich interessiere mich für Menschen, und alle Menschen sind fehlerhaft. Oder wollen Sie etwa das Gegenteil behaupten?

(Schweigt.)

Ich sehe, dass Sie die Herausforderung nicht annehmen wollen.

Frage Caspar Shaller:

Es denkt doch niemand ernsthaft, dass Frauen engelsgleiche Wesen sind, die sich immer höchst moralisch verhalten.

Antwort Atwood:

Ich glaube nicht, dass irgendjemand das ernsthaft annimmt. Aber man dachte lange Zeit, dass man nicht darüber sprechen sollte. Es kommt darauf an, wie viel man zu vergeben bereit ist. Wir waren alle in der Schule. Dort haben wir alle mit gemeinen Kindern zu tun gehabt, Jungen ebenso wie Mädchen. Wir alle wussten, dass Frauen nicht die besseren Menschen sind, aber man durfte nicht darüber sprechen.

Das ganze Gespräch zeigt Atwood immer wieder als selbstbewusste Person, die sich von Schlagworten oder Ideologien, sie mögen noch so populär und ,en vogue’ sein, nicht vereinnahmen lässt. Das gebietet Respekt.Das erste und bisher einzige Buch Atwoods, das ich gelesen habe (Oryx and Crake; 2018-24) hat mich zwar nicht überzeugt. Umso mehr ist das Gespräch mit Caspar Shaller Anlass und Motiv, mehr von Atwood kennen zu lernen.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert