
Harris ergänzt die Fakten zur Affäre Dreyfus, die er sorgfältig, beinahe buchhalterisch akribisch, aus zahlreichen publizierten Quellen zusammengetragen hat, mit sprudelnder Fantasie und grosser Einfühlung zu einem spannenden, dichten und äusserst informativen Roman. Dabei bleiben die relevanten Fakten Fakten, die handelnden Personen behalten ihre Namen, und die Ereignisse werden so aufgeführt, wie sie sich zugetragen haben.
Der Mehrwert, den Harris beiträgt, macht aus den spröden Fakten jedoch eine spannende und sehr lesbare Handlung, in der Leserinnen und Leser ein realistisches und plastisches Bild der Epoche der Dreyfus-Affäre (1890-er Jahre und frühes 20. Jahrhundert), des im damaligen Frankreich herrschenden Zeitgeists sowie des Zusammenspiels von Politik und Armee erhalten.
Als Laie wird man vom offenbar in der französischen Gesellschaft tief verwurzelten Antisemitismus so überrascht und überwältigt, dass man den Eindruck bekommt, dass der Holocaust auch von Frankreich hätte ausgehen können.
Es beeindruckt auch, in welchem Mass die französische Gesellschaft und deren Elite durch die Niederlage im Krieg mit Deutschland von 1870-71 traumatisiert war.
Allerdings: der Roman ist schwergewichtig, fast ausschliesslich, konzentriert auf die Beschreibung der Identifizierung von Dreyfus als vermeintlichen Verräter, um die Prozesse dessen Verurteilung und Verbannung auf die ,Teufelsinsel’ in der Karibik bis zu den erfolglosen Versuchen, den tatsächlichen Spion festzunageln und Dreyfus zu rehabilitieren. Die tatsächliche Rehabiltierung von Dreyfus und der sogenannten Dreyfusards, zu denen an erster Stelle der Held des Romans, Georges Picquart, gehört, kommt demgegenüber zu kurz; sie wird auf den letzten 5 – 10 Seiten des Romans sehr beiläufig und kursorisch behandelt. Ich meine, dass der Roman gewinnen würde, wenn die gelegentlich langfädige Behandlung der Geschichte der Identifizierung von Dreyfus, der Versuche, den tatsächlichen Verräter dingfest zu machen, und ganz besonders der Anstrengungen, die französische Armee nach der zweifelsfreien Feststellung, dass alle ,Beweise’, die zur Verurteilung von Dreyfus führten, sich als hohl oder gar fabriziert herausgestellt hatten, zur Verantwortung zu ziehen, gekürzt würde, um mehr Gewicht auf die Schilderung der Rehabilitation von Dreyfus und dessen Anwälte und Freunde zu legen. Das wäre auch eine gute Gelegenheit, die Folgen des Nachweises des Jahrhundert-Justizirrtums sowie dessen Korrektur auf die französische Gesellschaft sichtbar zu machen.