
Ich habe «Heart of Darkness» in der Oxford World’s Classics-Ausgabe «Heart of Darkness and other Tales» gelesen. Es handelt sich bei dieser Ausgabe um eine wissenschaftlich reich annotierte und kommentierte Ausgabe von mehreren Kurzgeschichten Conrads.
Das Buch beeindruckt in zweifacher Hinsicht.
Einmal gibt es einen fundierten Einblick in die Biografie von Conrad, und es führt Leserinnen und Leser gründlich in Denkweise und Fühlen des Schriftstellers ein. Allein die Biografie ist stupend. Aus heutiger Sicht erscheint es geradezu unglaublich, wie der Sohn eines polnisch-ukrainischen Paars, das vom russischen Zarenregime politisch verfolgt war, der mit 12 Jahren bereits Vollwaise wurde, sich zu einem schon zu Lebzeiten angesehenen und berühmten englischen Schriftsteller mausern konnte.
Mit der Schriftstellerei beginnt er erst als 37-Jähriger. Zuvor schlägt er sich durchs Leben und durch die Welt als Seemann (meist (noch) auf Segelschiffen); in diesem Beruf, den er in Marseille als 17-jähriger junger Mann ergreift, bringt er es immerhin auch zum Master’s Certificate (Kapitänsausweis?). Er fährt meistens unter britischer Flagge. Nur 1890 steuert er während sechs Monaten als Kapitän – im Auftrag der Société Anonyme Belge pour le Commerce du Haut-Congo – den kleinen, beinahe auseinanderfallenden und schwachbrüstigen Flussdampfer Roi des Belges auf dem Kongo-Strom von Stanley Falls nach (dem heutigen) Kinshasa.
Die offenbar schrecklichen und gleichzeitig spirituellen Erinnerungen an diese Reise sind der Stoff, den er in Heart of Darkness verarbeitet hat.
Aus meiner Sicht ist diese Geschichte für jemand, der keine (guten) Vorkenntnisse über die Geschichte des Belgisch-Kongo hat, kaum oder nur sehr schwer verständlich. Was man aber in jedem Fall mitnehmen kann, ist die einprägsam geschilderte Mentalität und Stimmung, die bei den Europäern, die an der fürchterlich-verbrecherischen und mörderischen Kolonialisierung des Belgisch-Kongo beteiligt waren, geherrscht haben muss.
Am meisten beeindruckt mich der Kontrast zwischen den geradezu poetisch-schwelgerischen Naturschilderungen Conrads und seinen – aus heutiger Sicht in natürlich politisch völlig unkorrekter Sprache geschriebenen – Schlaglichtern auf den unmenschlichen Umgang der Europäer mit den Eingeborenen und die skrupellose und räuberische Ausbeutung der vorhandenen Ressourcen (bei Conrad in erster Linie Elfenbein). Beiläufig bekommen Leserinnen und Leser auch einen Eindruck von den suizidalen und schrecklichen Strapazen, die von den damaligen Kolonisatoren, die ins immer noch weitgehend unbekannte und vor allem unerschlossene Innere des afrikanischen Kontinents vorstossen wollten, ausgehalten werden mussten.Heart of Darkness (einschliesslich des wissenschaftlichen Beiwerks) ist sehr schwere Kost. Der Fluss der Geschichte wird immer wieder mit inneren Monologen des Erzählers unterbrochen. Auch sonst wird der ‚rote Faden’ keineswegs linear abgerollt. Die Mühe, die Geschichte ‚gegen Widerstand’ zu lesen, wird jedoch durch zahlreiche wunderschöne Naturbeschreibungen und beiläufig liegen gelassene messerscharf beobachtete und beschriebene ‚Menschlichkeiten’ belohnt.