
Drei Monate (Januar bis März 2013) habe ich benötigt, um die 754 Seiten dieser bewegenden und berührenden Biographie von Abraham Lincoln zu lesen und zu verarbeiten. Das spricht nicht etwa gegen das Werk, sondern es zeigt, dass ich – unter Vernachlässigung aller Ablenkungen und meiner üblichen Tageslektüre – schlicht und einfach die Komplexität des Stoffs nicht schneller in mich aufnehmen konnte.
«Biographie»: eigentlich ein Misnomer, denn die Autorin beschreibt zwar das Leben Lincolns, aber im Zentrum des Buchs steht – wie der Buchtitel suggeriert – die Geschichte von Lincolns Regierungsteam, und damit die Geschichte des amerikanischen Bürgerkriegs (1861 – 1865). Dahinter steht die Tatsache, dass Lincoln, damals Provinzanwalt in Illinois, 1860 als krasser Aussenseiter zur Wahl des republikanischen Präsidentschaftskandidaten angetreten ist. Seine übermächtigen Rivalen waren – natürlich jeder für sich – allesamt davon überzeugt, haushohe Favoriten zu sein und das Rennen ‚mit links’ zu machen. Keiner war auf die Möglichkeit vorbereitet, dass die Rivalität der Favoriten im Endeffekt zu ihrer gegenseitigen Blockade führen und ausgerechnet den unbekannten Lincoln zum Profiteur machen könnte. Jedenfalls wurde Lincoln Präsidentschaftskandidat und gegen einen schwachen demokratischen Kandidaten glorios gewählt.Natürlich war zu diesem Zeitpunkt die Auseinandersetzung zwischen Süd- und Nordstaaten über die Frage der Sklaverei bereits zerfleischend und die Gefahr der Sezession der Südstaaten schon lange eine bittere Realität. Die Sezession erfolgte just nach Lincolns Wahl, d.h. noch vor seinem Amtsantritt. In dieser Situation gelang ihm sein politisches Meisterstück: er konnte seine ehemaligen Rivalen überzeugen, in seine Regierung einzutreten und die wichtigsten Ämter zu übernehmen: deshalb ‚team of rivals’.
Das Buch beschreibt nun packend, in einer manchmal strapazierenden Genauigkeit und Detailversessenheit, wie dieses Kabinett, wegen der inneren Rivalität und tiefen Zerstrittenheit ständig am Rand des Auseinanderbrechens, von Lincoln in absoluter Souveränität durch die bitteren und schrecklichen Jahre des Bürgerkriegs geführt, immer wieder auf die gemeinsamen Ziele des Zusammenhalts der ‚Union’ und der Abschaffung der Sklaverei verpflichtet und zusammengehalten wird.
Die USA haben den Bürgerkrieg trotz gigantischen Opferzahlen, zerrissenen Familien und massiven wirtschaftlichen Kosten überlebt; Nord- und Südstaaten wurden tatsächlich wieder vereint und die Sklaven befreit. Diese unglaubliche, von kaum jemand erwartete Leistung ist in erster Linie Lincolns intuitiv richtigem Verständnis für die Befindlichkeit der ‚amerikanischen Seele’, für das der Bevölkerung Zumutbare an Härte und Entbehrung, an Flexibilität gegenüber dem Süden und an Geduld gegenüber den radikalen ‚Abolutionisten’ zu verdanken.
Dies ist um so erstaunlicher, wenn man sich Lincolns Leben vor Augen hält:
- aufgewachsen als Sohn eines sich mühsam über Wasser haltenden Tagelöhners in Amerikas damals immer noch ‚wildem Westen’; ohne Mutter; ohne nennenswerte Schulbildung; schon als Jugendlicher gezwungen, seinen Lebensunterhalt selbst zu verdienen (als Flösser, Waldarbeiter, Schwellenleger, etc.)
- Schulbildung im Selbststudium nachgeholt, inklusive Rechtsstudium und Ausbildung zum Anwalt; ‚nebenbei’ Studium der abendländischen Philosophie und Literatur bis hin zur völligen Vertrautheit mit den grössten Werken der europäischen Literatur (z.B. Shakespeare)
- jahrelanges ‚Herumtingeln’ als Anwalt in den Prärien von Illinois (wo jeweils eine Gruppe von Richtern und Anwälten mit ihren Hilfskräften und Schreiberlingen von Ort zu Ort zogen (zu Pferd), in schäbigsten Unterkünften (zu mehreren im gleichen Bett) übernachteten, und tagsüber die örtlichen Rechtsstreitigkeiten verhandelten und lösten
Beginn einer politischen Karriere mit Ämtern im Staat Illinois und scheinbarer Höhepunkt mit der Wahl zum US-Senator von Illinois (für eine Amtsperiode)
Der ‚Aufstieg’ Lincolns fällt in die wohl kritischste Phase der Entwicklung der USA. Es ist die Zeit
- der Konsolidierung der neu gewonnenen Souveränität (durch den Sieg im Krieg gegen England 1812 – 1814),
- der Erfüllung des ‚manifest destiny’, d.h. der räumlichen Ausdehnung bis an den Pazifik,
- der Industrialisierung des amerikanischen Nordens, des damit verbundenen rasanten Bevölkerungszuwachses (durch Immigration) sowie der ‚Völkerwanderung’ von Osten nach Westen;
- der Marginalisierung der Südstaaten, die wegen ihrer Abhängigkeit vom System der Sklaverei auf Gedeih und Verderben der Landwirtschaft ausgeliefert waren und deshalb vom ‚Segen’ der Industrialisierung ausgeschlossen waren;
- der zunehmenden Erkenntnis (in den Nordstaaten), dass die Sklaverei keine Zukunft haben konnte und überwunden werden musste.
Diese historische Entwicklung ist nicht expliziter Gegenstand des Buchs, bildet aber den Hintergrund des Geschehens. Insofern ist diese Lincoln-Biografie Musslektüre für jeden, der die Geschichte der USA, und insbesondere die Geschichte der Emanzipation aus der unmenschlichen Sklaverei verstehen will.
PS:Die 2012 erschienene Verfilmung der Lincoln-Biographie durch Steven Spielberg ist eine sehr gute Ergänzung der Buchlektüre. Sie macht die politische Leistung Lincolns in einer schier unlösbaren historischen Situation bildhaft und emotional sehr eindrücklich erlebbar.2013