
Judith Hermann erzählt eine seltsame, manchmal skurrile, manchmal verstörende Geschichte von Menschen, die zwar eine selbstgewählte oder von der Tradition vorgegebene Mission haben, aber keine Ahnung davon, welche Rolle sie als Menschen auf diesem Planeten und in ihrer jeweiligen Gesellschaft haben oder haben wollen:
- Im Zentrum steht die namenlose Ich-Erzählerin, die als rund fünfzigjährige Frau nach dem Auszug ihrer einzigen Tochter Ann und ihrer Scheidung von Otis ihr Stadtleben abrupt abbricht und an einem ebenso namenlosen Irgendwo ein neues Leben beginnt; sie weiss eigentlich nicht, was sie will – keine Wurzeln zu haben oder zu schlagen ist ihr Programm.
- Otis ist von der Idee besessen, dass die grosse Weltkatastrophe unmittelbar bevorsteht, und er sammelt geradezu manisch alles, was er zum Überleben in und nach dieser Katastrophe für nützlich hält; sowohl seine eigene Wohnung (er und die namenlose Erzählerin haben, obwohl verheiratet, nie zusammen gewohnt) als auch die seiner Frau, die er nach der Scheidung übernommen hat, sind mit seinen Sammlungen vollgestopft und kaum noch bewohnbar.
- Ann befindet sich, nachdem sie von ihren Eltern ausgeflogen ist, auf einer Reise, an wechselnden, aber immer unbekannten Orten; sie kommuniziert sporadisch, aber sehr unregelmässig mit ihrer Mutter.
- Mimi, die neue Nachbarin der Ich-Erzählerin, etwa gleich alt, Tochter einer seit Generationen ansässigen Bauernfamilie, die sich freundschaftlich um ihre neue Nachbarin kümmert und diese mit der Gemütslage der lokalen Gesellschaft bekannt macht.
- Arild, der Bruder von Mimi, der den elterlichen Hof übernommen und die traditionelle Schweinezucht wesentlich ausgebaut hat. Seine Mission ist die Weiterführung des Familienbetriebs und damit die Aufrechterhaltung des für die Region und die Pflege der Landschaft zentralen traditionellen Gewerbes.
- Onno und Amke, die Eltern von Mimi und Arild, die seit der Übergabe ihres Hofes an Arild ihren Lebensabend in einer Alterswohnung im Dorf geniessen.
- Sascha, der meistens ebenfalls namenlose Bruder der namenlosen Ich-Erzählerin, führt im Ort die Wirtschaft Shed, buchstäblich ein Schuppen, aber mit Terrasse, direkt am Hafen gelegen, mit viel Betrieb in der Touristensaison, aber sonst geschlossen.
- Nike, wie vom Himmel gefallene Freundin von Sascha, etwa zwanzigjährig, also 40 Jahre jünger als er, ein kaum fassbares Wesen, kellnert bei Saschas Konkurrenz; ihr Hobby ist Zeichnen und Malen. Sascha ist besessen von ihr und will mit ihr nach Saisonschluss eine Weltreise starten.
Der Ort, an dem sich diese Personen zu Hermanns Geschichte zusammenfinden, liegt an einer nicht näher bezeichneten Küste im Norden (Deutschlands, muss man annehmen). Aufgrund einer Szene (Seite 150), in der alle aufgeführten Personen (ausser Onno und Amke) nach einem ausgelassenen und feuchten Abend um Mitternacht im Radio den Seewetterbericht anhören (worin von Skagerrak, Aland-Inseln, Islandtiefausläufer und Ähnlichem die Rede ist), und weil die Gezeiten gemäss Mimi eine wichtige Rolle für die Tagesgestaltung haben, kann man spekulieren, dass es die Nordseeküste sein muss.
Judith Hermann suggeriert mit ihrem Titel «Daheim», dass die Ich-Erzählerin – endlich, mit fünfzig – im Begriff ist, zu sich selbst zu finden. Die Geschichte bleibt aber sehr im Vagen, sie vermittelt keinerlei Gewissheiten. Sie hat weder einen diskreten Anfang noch ein Ende. Sie plätschert ohne roten Faden von Episode zu Episode, nur gelegentlich unterbrochen von Erinnerungen. Auch am Ende der Lektüre bleibt offen, was uns die Geschichte eigentlich sagen will.
Das passt jedoch sehr gut zum Stil von Hermann, der sehr sachlich, emotionslos, rein deskriptiv und nie wertend ist. Ich schätze dies sehr, weil in der aktuellen deutschsprachigen Literatur sonst nur allzu schnell Moralkeulen und erhobene Zeigfinger dominieren. Für mich gehört Hermann mit ihrem Stil und ihrer emotionslosen Sachlichkeit eher zur englischsprachigen Erzähltradition, also in die Familie von Schriftstellern wie Scott Fitzgerald, Richard Ford, Alice Munro, Ian McEwan.
PS:
Eine leise Kritik will ich nicht unterdrücken: Hermann fällt handwerklich zweimal von der Rolle (und ihr Lektor fällt gleich mit):
- Auf Seite 44 lässt sie Mimi, die kaum die Hauptschule absolviert hat und wirklich bis auf die Knochen im norddeutsch-ländlichen Milieu zuhause ist, eine frühere Freundin ihres Bruders als ‚Hetäre‘ bezeichnen; das ist ein Wort, das auch zahlreiche hochgebildete Deutsche kaum kennen dürften. Ausserdem ist die Vorstellung, der Schweinezüchter Arild könnte eine Hetäre haben, ganz einfach absurd.
Im Austausch mit ihrem Bruder, der sein Dorf zeitlebens noch nie verlassen hat und wohl eher plattdeutsch als hochdeutsch zur Muttersprache hat, verwenden Mimi und Arild ,Cheers’ und ,So long’ (Seiten 48 und 51). Da scheint Hermann den Ort ihrer Geschichte mit dem Prenzlauer Berg zu verwechseln.
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Am 7. Mai 2022 druckte die NZZ die folgende Besprechung von Roman Bucheli von «Daheim», konkret Buchelis Laudatio anlässlich der Auszeichnung von Judith Hermann mit dem Preis der Literatour Nord am 30. April 2022 in Hannover. Es ist ein Kontrast zu meinem eigenen Fazit, dass auch am Ende der Lektüre offen bleibt, was uns die Geschichte eigentlich sagen will. Bucheli ist jedenfalls fündig geworden.
Mit ihren Büchern lernen wir die Gegenwart neu kennen
Judith Hermann schreibt seit einer halben Ewigkeit. Und immer geistern halb verlorene Existenzen durch ihre Geschichten. Dringlicher als gerade jetzt war ihr Werk nie.
Die Unbehaustheit ist in Judith Hermanns Werken ein Thema, das seit ihrem Debüt in vielerlei Gestalt immer wiederkehrt. M. Witte
Marina Zwetajewa hat in ihrem Leben viele ekstatische Briefe geschrieben. Zu den seltsamsten unter ihnen zählt jener, den sie zwei Wochen nach der Geburt ihres Sohnes Georgi an den von ihr verehrten und geliebten Boris Pasternak geschrieben hat. Georgi war am 1. Februar 1925 in einem Dorf unweit von Prag zur Welt gekommen. Marina Zwetajewa lebte zu diesem Zeitpunkt seit gut drei Jahren im Exil.
Während neun Monaten im Bauch und zehn Tagen auf Erden habe das Kind Boris geheissen, schreibt sie Pasternak. Ihr Mann habe dem Sohn dann aber den Namen Georgi gegeben. Sie habe sich dem Wunsch ihres Mannes allein darum gefügt, weil sie sich damit das Recht vorbehalte auf einen richtigen Boris, auf einen Sohn von Pasternak nämlich, wie es in ihrem Brief weiter heisst. Dieser Boris sei in ihr geblieben.
Fassungslos im Leben
In ihrem langen Brief geht die Dichterin wie stets auf den kühnsten Abwegen. «Wenn ich an ein Leben mit Ihnen denke, Boris, frage ich mich immer: wie wäre es wohl.» Sie beantwortet ihre Frage nicht – oder jedenfalls nicht ohne Umschweife. «Ich habe meiner Seele beigebracht», schreibt sie stattdessen, «draussen zu leben, ich habe sie mein Leben lang nur durchs Fenster betrachtet.»
Dann wird der Gedankengang mit jedem Satz präziser und zuletzt bestürzend hellsichtig, weil Marina Zwetajewa, ohne es explizit zu sagen, von ihrer Situation im Exil spricht: «Ich habe meine Seele zu meinem Haus gemacht, nie aber mein Haus – zur Seele. In meinem Leben bin ich abwesend, bin nicht zu Hause. Die Seele im Haus, die Seele zuhaus – das ist für mich undenkbar, wörtlich: ich kann es nicht denken.»
Im eigenen Leben abwesend, sagt Marina Zwetajewa. Eingedenk aller Unterschiede trifft dies auf fast alle Figuren in den Erzählungen und Romanen von Judith Hermann zu. Sind sie nicht alle auf ihre je eigene Weise in ihrem Leben abwesend? Haben nicht auch sie ihren Seelen beigebracht, draussen zu leben, in der Unbehaustheit? Sie würden es vielleicht nicht so nennen, weil sie nicht so pathetisch und poetisch veranlagt sind wie Marina Zwetajewa, sie würden es auch darum nicht sagen, weil ihnen die Luzidität fehlt, es überhaupt festzustellen. Sie taumeln fassungslos durch ihr Leben, wüssten aber nicht zu benennen, was ihnen die Fassung raubt oder zu ihr fehlt.
«Ich habe meine Seele zu meinem Haus gemacht, nie aber mein Haus – zur Seele.» Das entspricht aufs Genaueste der Lebenserfahrung von Judith Hermanns Figuren: vom Taxifahrer Stein aus dem Debüt «Sommerhaus, später» mit seinem verwunschenen Haus draussen vor der Stadt bis zur Ich-Erzählerin in dem jüngsten Roman «Daheim». Niemand hat hier ein unkompliziertes Verhältnis zu Häusern oder Wohnungen, wenn man denn überhaupt irgendwo wohnt.
Doch dürfen wir Marina Zwetajewas intime Überlegungen im Brief an Boris Pasternak so umstandslos neben die Befindlichkeiten von literarischen Figuren stellen, noch dazu von Figuren, die aus der Saturiertheit der Jahrtausendwende stammen, die eher am Überfluss als an der
Not leiden? Und noch ernsthafter: Können wir überhaupt diese Wohlstandserschöpfung am Fin de Siècle in ein irgendwie sinnvolles, sinnfälliges Verhältnis setzen mit Marina Zwetajewas Erfahrung des Exils und ihrem grauenvollen Tod nach ihrer Heimkehr? Schliesslich und noch Literatur und Kunst dringender: Wie sollten wir heute, da Millionen von Menschen auf der Flucht sind, ernsthaft über die Unbehaustheit von ein paar verlorenen literarischen Figuren reden, ohne uns lächerlich zu machen?
Ja, können wir überhaupt in Zeiten grösster Drangsal und schlimmster Verbrechen über Literatur reden? Die Antwort ist schlicht und einfach: Wir können nicht nur, wir müssen, weil wir nichts Geringeres als die Vorstellungskraft in unseren Arsenalen des Widerstands haben. Sie zwingt uns zum Nachdenken, sie öffnet die Wirklichkeit hin auf den Möglichkeitsraum, sie schafft die Bilder, mit denen wir die Welt zu deuten lernen.
Darum müssen wir gerade in Zeiten wie diesen über Literatur reden. Sie wird indessen wie sonst nie vor eine Bewährungsprobe gestellt. Nun muss sich zeigen, ob sie mehr ist als schöne Worte; nun muss sich erweisen, ob sie im Anblick des Unmenschlichen das Menschenmögliche zu tun vermag.
Der nomadische Taxifahrer
Vielleicht dürfen und müssen wir von einer Literatur erwarten, dass ihre Empathiefähigkeit nicht geringer ist als ihre Imaginationskraft und ihre Darstellungskompetenz. Denn das Leiden des Menschen kann nur wahrhaft beschreiben, wer das Mitgefühl daran mitwirken lässt. Die kühle Vernunft soll ihren Platz haben in den Dispositiven des Dichterischen, indessen nicht als Gefühlsk.lte, doch als ordnende Kraft.
So also lauten in Zeiten des Krieges, in Zeiten von Verfolgung und Flucht die Fragen, die wir an jedes Werk stellen müssen und die wir heute an jenes von Judith Hermann stellen wollen. Gelingt es ihr, Bilder zu schaffen, in denen uns die Welt und die Gegenwart fremd werden, damit wir sie und uns in ihr wiedererkennen?
Es geschieht selten, dass eine junge Schriftstellerin mit ihrem Debüt – Judith Hermann war 1998 noch keine dreissig Jahre alt – emblematische Figuren erschafft, von denen man erst wiederum fast ein Vierteljahrhundert später sagen kann, dass sie einer Epoche Gesichter verliehen haben. Wenn wir von heute zurückschauen auf «Sommerhaus, später», dann erkennen wir nicht nur den Basso continuo eines literarischen Werks, das sich daraus entwickelt hat. Wir glauben auch die Insignien einer Zeit lesen zu können, die wir als unsere Gegenwart bezeichnen, die uns aber in vielen ihrer Widersprüche rätselhaft und fremd geblieben ist.
Nehmen wir zum Beispiel den bereits genannten Taxifahrer Stein, der als Zentralgestirn von Judith Hermanns Werk sogar etwas überzeichnet ist in seiner Charakteristik. Sein Name ist ein Omen und sein Beruf als zweite Natur gleichsam eine innere Berufung, und damit ist auch bereits die innere Zerrissenheit dieses Menschen in aller Schärfe gefasst. Stein ist immer unterwegs, aber nie dahin, wo er aus eigenem Antrieb hinkommen will. Er ist reine Passivität, die zu permanenter Aktivität verurteilt ist.
Sein ganzer Besitz beschränkt sich auf ein paar Tüten, die er bald hier und bald dort einstellt, wo er dann für ein paar Tage oder Wochen bleibt, wie ein Stein, den man eine Weile mit sich herumträgt und dann wieder fallenlässt. Während seine Freunde schwärmerisch von einem Haus fabulieren, das man haben müsste, macht er sich daraus eine Obsession. Was er findet, ist nicht bewohnbar, sondern kurz vor dem Einsturz. Als es bewohnbar wäre, interessiert das schon niemanden mehr, stattdessen geht es in Flammen auf.
Man dachte sich damals, das sei ein atemberaubend genaues Porträt einer träumerisch verlorenen Generation, die von allem zu viel und gleichzeitig von allem zu wenig hat, die ihre Unbehaustheit zum spätmodernen Habitus macht, frei von Dünkel und Zynismus zwar, jedoch mit einem unverhohlen ironischen Verhältnis zur Wirklichkeit. Der Erzählband freilich hatte eine intrikate Komposition. Der Titelgeschichte ging die Erzählung «Hunter-Tompson-Musik» unmittelbar voraus.
Sie variierte das gleiche Thema und entwarf ihrerseits die Zeichnung einer existenziellen Unbehaustheit. Und doch war hier alles ganz anders. Man musste sich die beiden Erzählungen Rücken an Rücken denken oder wie eine doppelt belichtete Fotografie. Zweimal das Gleiche – und doch ganz verschieden. Noch nicht einmal ein Anflug von ironischer Distanz zum Leben war hier auszumachen, nur mehr stille Verzweiflung und schicksalhafte Ergebenheit.
Ein alter Mann und ein Mädchen – und zwischen den beiden fast so etwas wie eine Liebesgeschichte. Sie begegnen sich auf dem Flur eines Hotels in New York. Es ist kein Hotel mehr, längst ist es ein Altersasyl, ein Armenhaus. Hunter Tompson wohnt hier – und mit ihm eine Reihe verschrobener Alter. Die junge Frau ist auf der Durchreise und hier gelandet aus Gründen, die von einer anderen Not erzählen. Man hat ihr den Rucksack gestohlen, und das heisst: Man hat ihr alles genommen. Auch Tompson und die junge Frau stehen Rücken an Rücken: Sie ist noch nicht angekommen im Leben, er hat die letzte Etappe seiner Biografie erreicht. Und trotzdem stehen sie am gleichen Punkt. Sie ist unterwegs, er ist es auch, selbst wenn sich sein Bewegungsradius auf den kleinsten denkbaren Raum reduziert hat.
Am Ende der Geschichte kommt es zu einem nächtlichen Gespräch zwischen den beiden. Es ist eine der schönsten Stellen in Judith Hermanns Werk. Der Mann hat sich hinter seiner Zimmertür verschanzt, das Mädchen steht davor. Gerade hatte er für sie einen alten Kassettenrecorder mit Musik vor die Tür gestellt, da ihr mit dem Rucksack auch das eigene Gerät abhandengekommen war. Weinend vor Rührung harrt sie mit dem unerwarteten Geschenk vor der Tür aus, möchte hereinkommen, Hunter aber macht die Tür nicht auf, stattdessen reden, flüstern sie durch den Türspalt. Zuletzt möchte sie wissen, warum er bloss in diesem Haus lebe. Hunter darauf: «Weil ich fortgehen kann. Jeden Tag, jeden Morgen meinen Koffer packen, die Tür hinter mir zuziehen, gehen.»
Erst wenn man die beiden Texte übereinanderlegt, geht aus dem Kontrast hervor, dass hier von einer Daseinsweise die Rede ist, deren elementarste und erschreckendste Form wir erst heute wieder neu zu begreifen lernen. Der bis ins Innerste seiner Existenz gedemütigte Hunter Tompson konterkariert die habituelle Unbehaustheit der Titelgeschichte.
Weder die eine noch die andere Geschichte indessen gibt das ganze Bild, nur beide zusammen vermitteln eine Ahnung vom Ganzen: dass der Mensch im Leben nie ankommt. Das Prekariat des Daseins kennt keine Altersgrenze. Und nun können wir uns noch einmal den Satz von Marina Zwetajewa in Erinnerung rufen: «In meinem Leben bin ich abwesend, bin nicht zu Hause.» Auch Stein hätte es sagen können und erst recht Hunter Tompson. Keiner von beiden hätte es zu sagen gewagt.
Wir aber können ohne Übertreibung feststellen, dass Judith Hermann in ihren frühesten Texten Bilder hervorgebracht hat, die der Unbehaustheit im Leben eine ikonische Form geben, in der sich mehr als die greisenhafte Erschöpfung junger Leute oder die kindliche Hoffnung eines alten Menschen ausdrückt. Und mit Hunter Tompson hat Judith Hermann einen Wiedergänger von Marina Zwetajewa geschaffen – verloren im Leben und trotzdem empathiebegabt.
Ein Vierteljahrhundert nach der Niederschrift geht aus der Geschichte von Hunter Tompson eines jener aufwühlenden Bilder hervor, mit denen
wir die Schrecken unserer Gegenwart genauer lesen und buchstabieren lernen: Judith Hermann lässt uns in die beschädigte Seele dessen blicken, der von einem unerbittlichen Schicksal aus dem Leben gestossen worden ist.
Ein Buch der Stunde
Am Anfang dieses Werks standen ein desolates Sommerhaus und ein ebenso trostloses Armenhaus. Man konnte es da noch nicht ahnen, dass es mit der Sehnsucht nach einem Dach über dem Kopf, nach Behausung und Ankunft im Leben so schnell kein Ende nehmen würde. Heute schauen wir verwundert zurück und sehen, dass in diesem vielfältigen literarischen Werk das Wohnen (oder vielleicht müsste man sagen: die Angst vor der Sesshaftigkeit) zu einem eigentümlichen Leitmotiv geworden ist.
Als darum Judith Hermanns jüngster Roman vor einem Jahr unter dem Titel «Daheim» erschien, war die Versuchung gross und naheliegend, diesen scheinbar aus der Zeit gefallenen Begriff ironisch zu deuten. Nichts jedoch wäre abwegiger. Vielmehr müssen wir den Roman und seinen Titel im Horizont eines literarischen Werks lesen, in dem von Sehnsucht und Ängstlichkeit, Prekariat und Verlorenheit unentwegt die Rede ist. Seltsamerweise, oder genauer: bezeichnenderweise ist in «Daheim» niemand daheim.
Daran erkennen wir die dialektische Tücke des Begriffs. Er schliesst aus, was er zu bezeichnen vorgibt. Alle wohnen sie zwar. Judith Hermanns Figuren sind auch mit uns älter geworden, haben eine Lebensgeschichte mit Beziehungen und Trennungen, weit in der Ferne liegt eine Jugend, aus der manchmal noch als schwache Erinnerung eine Flaschenpost in die Gegenwart herüberkommt. Alle haben sie eine feste Wohnung oder sogar ein Haus.
Die Ich-Erzählerin sagt einmal, als wäre sie selbst etwas erstaunt darüber: «Es ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich in einem Haus wohne.» Aber sowohl ihr Haus wie auch andere Häuser in dem Roman sind fast leer und nur mit dem Nötigsten möbliert, als stünde die neuerliche Abreise immer unmittelbar bevor. Das hat mit ihren Vorgeschichten zu tun und ist ein Echo aus den früheren Büchern Judith Hermanns: Alle Romanfiguren sind Nachfahren des Taxifahrers Stein und des Pensionärs Hunter Tompson. Das Prekäre des Daseins dauert fort.
Es betrifft sogar die Einheimischen, die hier seit Generationen hinter den Deichen geschützt vom Meer leben und das Land im Bewusstsein derer bewirtschaften, die immer schon ahnten, dass sie das Stück Erde nur geliehen hatten – und die Lebenszeit ohnehin auch. Der Bauer Arild zum Beispiel. Sein Haus steht fast leer. Tisch, Stühle, Bett und ein Fernseher auf Umzugskisten. Mehr nicht, aber tausend Schweine im Stall.
Seine Eltern sind ausgezogen, wie es alle Alten taten in ihrer Familie, sie wohnen auf dem Altensitz. «Das Haus steht direkt hinter dem Deich, wenn das Wasser steigt und der Deich bricht, wird es weg sein.» Es wäre das erste Mal in ihrem Leben, dass sie weg wären. Sie sind hier – oder dann sind sie tot, dazwischen gibt es nichts. Auch Arild war in seinem Leben noch nie weg, und er lässt nicht erkennen, dass er je einmal irgendwohin möchte: «Nie weggegangen, keine Reise gemacht», sagt er, «nie woanders gewesen. Wüsste auch nicht, wozu.» Und trotzdem würden er und seine Eltern nicht behaupten, sie seien daheim oder hätten da, wo ihr Haus steht, Wurzeln geschlagen. Sie sind da. Mehr, finden sie, gebe es dazu nicht zu sagen.
Entzauberte Metaphysik
Ein Zauberer hatte der Ich-Erzählerin, als sie noch sehr jung war, einmal ein Angebot gemacht. Er suchte eine Assistentin für seinen Zaubertrick «Die zersägte Jungfrau». Sie hätte in eine Kiste steigen müssen und wäre von ihm in zwei Teile zersägt worden – und alsbald, unter Applaus, wiederauferstanden. Sie hatte das Angebot ausgeschlagen. Vermutlich ahnte sie, mehr als sie es wissen konnte, dass sie den regelmässigen Scheintod auf Dauer nicht überleben würde.
Ähnliche Kisten sollten ihr nun, da sie am Meer wohnt, in den seltsamsten Travestien noch mehrmals begegnen – und sie hartnäckig an ihre jungen Jahre erinnern. Eine Holzkiste stellt ihr auch der Bauer Arild, den sie ungeachtet seiner verstockten Art zu lieben lernt, hinters Haus. Damit soll der Marder gefangen werden, der auf ihrem Dachstock rumort. Doch das Tier geht erst in die Falle, als es längst Ruhe gegeben hat. Sie zögert keine Sekunde, öffnet die Kiste und lässt den still gewordenen, den scheintoten Störenfried frei. Sie erkennt in ihm den Leidensgenossen.
Wird damit die Welt geheilt oder immerhin besser? Sie weiss es nicht, ohnehin ist es die falsche Frage. Allein die Zeiten der Zauberer und der zersägten Jungfrauen sind vorüber. Kein Trick, sei es Physik oder Metaphysik, bringt mehr zusammen, was entzweigegangen ist.
Das Leiden am Wohnen manifestiert sich hier in den seltsamsten Verwandlungen. Die merkwürdigste Form praktiziert der Mann der Ich-Erzählerin, der die Sesshaftigkeit systematisch und exzessiv hintertreibt. Er sammelt, und das heisst: alles, was ihm in die Hände kommt. Er schafft sich in seiner Wohnung ein Weltarchiv. Nichts darf verlorengehen. Nur leben konnten er und seine Familie nicht mehr. Die Ehefrau zog aus. Nun wohnt sie in dem leeren Haus am Meer. Auch die Tochter verliess den Vater und nomadisiert seither durch die Welt, mit nichts als einem Rucksack, auch sie eine Wiedergängerin. Gelegentlich schickt sie die Koordinaten ihres Standortes. Manchmal aus der leeren Weite eines Ozeans. Aus dieser Psychopathologie des Wohnens gibt es kein Entrinnen. Und Erlösung allenfalls im Paradox: ein Rucksack oder eine leere Wohnung als Schwundformen der Behausung.
Rettung naht, wenn wir so wollen, von Marina Zwetajewa. In einem Brief an ihren Freund Alexander Bachrach erinnert sie sich 1924 im Prager Exil an einen Aufenthalt als junge Studentin in Paris im Jahr 1909. Sie habe damals oft, in Gedanken verloren, die ihrem Eingang gegenüberliegende Tür benutzt. «Mlle se trompe souvent de porte», rief ihr die Concierge dann jeweils zu. «Das Fräulein irrt sich häufig in der Tür.» Und dann fügt Marina Zwetajewa im Brief hinzu: «So werde ich vielleicht zufällig statt in die Hölle in den Himmel gelangen!»
Jedes Haus hat zwei Türen und mehr – und durch jede Tür kann man hinein- und hinausgehen. Judith Hermanns Figuren sind älter geworden. Sie haben in der Zwischenzeit manches gelernt. Sie können inzwischen ankommen, und sie können auch wieder weggehen. Und wenn sie bleiben, heisst es nicht, dass sie daheim sind. Es wäre noch immer ein zu grosses Wort für sie. Aber jetzt, zum ersten Mal, ahnen sie, was damit gemeint sein könnte. Ein Marder muss nicht zersägt werden, Jungfrauen auch zum Schein nicht mehr. Denn Zersägtes gibt es in der Welt schon viel zu viel. Zu viel jedenfalls für ein einziges Leben.
Es gibt keine falschen Türen
Wo Hunter Tompson in der Verzweiflung zu sich findet, erleben wir hier eine Erzählerin, die in der Gelassenheit zu sich kommt – in einer Gelassenheit, die allerdings etwas anderes ist als die Gleichgültigkeit des Fin de Siècle ihrer eigenen Vergangenheit. Sie legt sich mit Arild ins Bett, sie lässt den Marder frei, unter ihrem Bett hat sie einen Pfefferspray, ein Messer und eine Pistole und an der Schlafzimmertür einen Riegel, den sie nachts vorschiebt. Aber sie hat gelernt, Türen zu öffnen und zu schliessen, beherzt hinein- und hinauszugehen. Und wenn sie Marina Zwetajewa gelesen hat, was nicht auszuschliessen ist, da sie vieles liest, weiss sie auch, dass es kein Schaden sein muss, wenn sie sich einmal in der Türe irrt.
Ankommen aber werden wir nie im Leben. Auch wenn wir nie weggehen. Man sollte Bücher nicht aufklärerisch nennen. Judith Hermanns bisher letzter Roman ist aufklärerisch in der schönsten Form. Man versteht, wenn man ihn gelesen hat, weniger vom Leben. Und das ist, für einmal, kein Verlust.
So wie es auch kein Verlust ist, wenn in einem Buch, das «Daheim» heisst, keine und keiner daheim ist. Wenn wir dieses Buch ein Buch der Stunde nennen möchten, dann gewiss deswegen, weil es die Brüchigkeit all dessen vor Augen führt, was wir je mit dem Wort «daheim» zu bezeichnen hofften. Auf welch schütterem Grund diese Hoffnung wohnt, beginnen wir erst jetzt zu begreifen.
Als dieses Buch im vorigen Jahr erschien, lasen wir es anders als heute, da die Welt eine andere geworden ist. Und wie wir heute das Buch mit anderen Augen sehen, so schauen wir, wenn wir jetzt aus dem Buch in diese neue Wirklichkeit zurückkehren, anders in diese Welt der zerbombten Häuser und Menschen, die kein Zauberer wieder zusammensetzt. Wie soll man ein solches Buch nennen? Prophetisch? Nein. Es ist, was nur Kunst vermag: Sie weiss mehr von der Welt als ihre Schöpfer.
Das Buch heisst zwar «Daheim», es erzählt aber sanft, beharrlich und unerschrocken von all jenen, die – aus welchen Gründen auch immer – gerade nicht daheim sind.
Beim vorliegenden Text handelt es sich um die Laudatio für Judith Hermann, die am 30. April in Hannover mit dem Preis der LiteraTour Nord ausgezeichnet worden ist.