
Der Autor Dirk Rossmann hat Jahrgang 1946; er gründete 1972 die gleichnamige erste deutsche Drogeriemarktkette mit Selbstbedienung: aus dem Nichts gegründet, heute 4’100 Filialen in Deutschland und sieben Auslandgesellschaften. 2018 publizierte er, unterstützt von Olaf Köhne und Peter Käfferlein, seine Autobiografie, die 2019 auf der SPIEGEL-Bestsellerliste auf Platz 1 landete. Jetzt hat er seinen ersten Roman, den Thriller «Der neunte Arm des Oktopus» publiziert.
Diese Informationen sind dem Autorenporträt im Roman selbst entnommen.
Die beiden erwähnten Ghostwriter unterstützten ihn auch beim jetzt vorliegenden Thriller (er selbst nennt sie nicht so und erwähnt sie nur im Schlusskapitel «Danksagung»).
Der Thriller brachte es immerhin auf die Liste der Top Ten von Denis Schecks ARD-Sendung «Druckfrisch» und zu einer Empfehlung des im Allgemeinen überkritischen Sendungsmoderators. Dank dieser Empfehlung bin ich überhaupt auf das Buch aufmerksam geworden.
Im Zentrum des Thrillers steht der Klimawandel, für dessen Bewältigung sich der Unternehmer Rossmann seit Jahrzehnten auch als Vater und Grossvater gesellschaftlich engagiert. Dabei legt er als Mitbegründer der Deutschen Stiftung «Weltbevölkerung» grosses Gewicht auf eine zukunftsfähige Bevölkerungsentwicklung.
Die Zeitachse des Romans erstreckt sich von den 2020-er Jahren des 21. Jahrhunderts bis zum Beginn des 22. Jahrhunderts, also bis 2100. Allerdings besteht zwischen diesen beiden Extremen ein grosses schwarzes Loch, d.h. der Roman springt zwischen 2018-2025 und 2100 hin und her, und ausser in den Jahren bis 2025 und 2100 passiert rein gar nichts.
Der Plot des Romans besteht im Wesentlichen darin, dass im Jahr 2022 – wie ein Blitz aus heiterem Himmel – die Staatschefs von China (Xi Jinping), Russland (Putin) und den USA (der Name des Präsidenten wird nicht erwähnt, da aber 2025 Kamala Harris inauguriert wird, muss es wohl Joe Biden gewesen sein) beschliessen, ihre gegensätzlichen Interessen beiseitezustellen und als G3 der Welt vorzuschreiben, was sie zur Vermeidung der Klimakatastrophe zu tun habe. Diese G3 fokussiert sich fast ausschliesslich auf die Beendigung der Zerstörung von Regenwäldern und die Begrenzung des Bevölkerungswachstums (das als Haupttreiber der Klimaerwärmung angesehen wird). Damit werden in erster Linie Länder wie Brasilien, Indien und Nigeria (als bevölkerungsreichstes Land des subsaharischen Afrika) angesprochen. Brasilien dient dabei als ‚Sündenbock‘ par excellence und wird dank Unterstützung der geballten militärischen Stärke der G3-Staaten gezwungen, die Zerstörung des Amazonas-Regenwalds zu beenden.
Dieser Prozess wird durchaus spannend beschrieben; dabei bleiben allerdings politische Ambitionen und persönliche Motive der beteiligten Staatschefs oder die vertiefte individuelle Charakterisierung der handelnden Akteure weitgehend im Dunkeln.
Jedenfalls gelingt es der G3, Brasilien mit maximalem militärischem Druck die Zusage abzuringen, die Brandrodung grosser Flächen von Amazonas-Regenwald zu beenden.
Mit dem Nachdruck der militärischen Bedrohung, die gegen Brasilien gerichtet war, gelingt es der G3 auch, die Länder mit dem grössten Bevölkerungswachstum (Indien, Nigeria) dafür zu gewinnen, eine strikte 1-Kind-Politik einzuführen.
Bezeichnenderweise spielt Europa (oder die EU) in diesem Plot keine Rolle. Und die Rettung der Welt oder der Lebensbedingungen für uns Menschen gelingt sogar ohne «Fridays for Future», ohne Greta Thunberg und ohne die Grünen. Es wäre aufschlussreich, die Motive des Autors für diesen Verzicht zu erfahren.
In einer Nebenhandlung zeigt Rossmann, dass die G3-Pläne auch auf Widerstand stossen. Ein chinesisches Regierungsmitglied (eine Art Geheimdienstchef) und ein russischer General, die beide die G3-Ziele für total verfehlt halten, finden heimlich zusammen und versuchen, die Umsetzung zu sabotieren. Schon der Versuch, den Druck auf Brasilien zu sabotieren, gelingt ihnen nicht; sie verschwinden entsprechend in den schwarzen Löchern des chinesischen beziehungsweise russischen Regimes. Ihr Motiv war nicht etwa die Überzeugung, dass die Lebensbedingungen der Menschheit auf dem Planeten Erde nicht durch die Klimaerwärmung und das ungebremste Bevölkerungswachstum gefährdet wären, sondern primär der eigennützige Wille, die verheerenden Folgen des Zusammenschlusses und der friedlichen Kooperation der G3 zu verhindern; denn diese Folgen waren in ihren Augen arbeitslose Heerscharen aus ihrem eigenen Militär- und Geheimdienstmilieu und natürlich Machtverlust.
Wie sich das alles, die Menschen und die Welt dann weiterentwickeln, wird im Thriller leider nicht ausgeführt. Die einzigen Hinweise stammen aus Gesprächen einer Gruppe von sieben Spezialisten aus verschiedenen Fachgebieten, die sich im Mai 2100 informell in der Pariser Privatwohnung einer Direktorin der Pariser Hochschule für Nachhaltige Ästhetik trifft. Einer der Teilnehmer ist schon über 100-jährig und hat die Gründung der G3 noch selbst erlebt. Die wenigen Brosamen, die dabei den Lesern und Leserinnen als Erkenntnisse über die veränderte Welt vom Tisch der reichen und eleganten Pariserin serviert werden, bestehen darin, dass im Jahr 2100 die Produktion von Nahrungsmitteln weitestgehend technisiert und eine künstliche, der menschlichen immer stärker ebenbürtige Intelligenz allgegenwärtig ist.
Eine Szene zeigt, wie der zur Gruppe gehörende junge KI-Nerd einen künstlichen Oktopus-Arm (den neunten Arm des Buchtitels) ins Aquarium des Oktopus der Pariser Hausherrin legt, um zu demonstrieren, dass dessen künstliche Intelligenz und physischen Fähigkeiten dem lebendigen Oktopus überlegen sind. Nach kurzem Beschnuppern behandelt der natürliche Oktopus den Eindringling jedoch als Feind und zertrümmert ihn. Der Autor gibt dazu keine Erklärung, will aber wohl damit zeigen, dass auch in 100 Jahren die künstliche Intelligenz noch nicht so weit ist, wie sie vor 30 Jahren behauptete, in 20 Jahren zu sein (also vor 10 Jahren).
Die Oktopus-Szene steht im Zusammenhang mit dem Titel des Thrillers. Der Oktopus spielt schon zu Beginn des Buchs eine kryptische Rolle. Am Schluss eines Besuchs von Gerhard Schröder auf der Datscha seines Freundes Putin drückt er diesem ein Buch in die Hand und ermuntert ihn, mindestens die drei von ihm markierten Seiten zu lesen: «Es geht um Oktopoden in Boston.» Tatsächlich unterbricht Putin einen Heimflug von einer UNO-Konferenz in New York für seine Entourage überraschend in Boston und besucht das dortige Meeresaquarium. Er lässt sich von einer Meeresbiologin, die den dort gehaltenen Riesenoktopus betreut, über die Welt der Oktopoden informieren. Diese Episode und die Oktopus-Szene in Paris wirken aber wie erratische Blöcke, denn im Thriller fehlt der rote Faden, der sie verbinden könnte; ein Sinn, der mit G3 oder der Klimakrise zusammenhängen könnte, erschliesst sich mir jedenfalls nicht.
Die Beschränkung der G3 auf Massnahmen gegen die Zerstörung der Regenwälder sowie die Bevölkerungszunahme ist natürlich eine krasse Vereinfachung der Klimakrise. Darunter leidet die Wirklichkeitsbezogenheit des Thrillers sehr. Natürlich ist ein solches Buch nicht der Ort, an dem alle Aspekte der Klimakrise auszubreiten und zu durchdringen sind. Aber es wirkt doch sehr willkürlich, gerade diese zwei und nur diese zwei Aspekte in den Fokus zu nehmen.Bei allen konstruktiven Schwächen liest sich der Thriller flüssig und spannend. Der Denkansatz ist allerdings in dem Sinne problematisch, als er der Handlung das zentrale Cliché, eine demokratische Weltordnung sei der Klimakatastrophe nicht gewachsen, d.h. nur eine weltumspannende Ökodiktatur könne sie verhindern, unausgesprochen unterlegt. Gleichzeitig wird damit natürlich auch die Anmassung zelebriert, die Spezies Mensch sei als erste und einzige dazu berufen, nicht unterzugehen und ‚ewig‘ am Leben zu bleiben.