
Den Hinweis auf dieses Buch verdanke ich Denis Schegg und seiner ARD-Sendung «Druckfrisch» (23. November 2020); sein ‚Werbespot‘:
«Was wäre, wenn…»: So lautet eine der Urfragen der Literatur. Heute möchte ich Ihnen als allererstes einen überaus vergnüglichen und gleichzeitig intellektuell faszinierenden Roman vorstellen, der dieser «Was-wäre-wenn-Literatur eine überaus Facette hinzufügt: Laurent Binet mit seinem Roman «Eroberung».
Die Ausgangsfrage ist ganz einfach. Was wäre, fragt Laurent Binet, wenn nicht die Europäer mit Christoph Columbus, Francisco Pizzaro und Fernando Cortez in die Neue Welt eingefallen wären, sondern das Pferd, das Eisen und das Rad schon mit den Isländern im elften Jahrhundert zu den Inkas gelangt wären? Was wäre, wenn Columbus mit seiner Expedition sang- und klanglos gescheitert wäre? Stattdessen aber umgekehrt ein Inka-Herrscher auf der Flucht vor einem Bürgerkrieg über Kuba in die Neue Welt Europa gelangt wäre? So beginnt Laurent Binets Roman «Eroberung».
Wir lesen gebannt vom Inka Atahualpa, der mit einem winzigen Gefolge von einhundertdreiundachtzig Männern und Frauen sowie einigen Papageien und einen Puma erst nach Portugal und dann nach Spanien gelangt, wo es ihm durch ein militärhistorisch atemberaubendes Bravourstück gelingt, das Reich von Kaiser Karl V. an sich zu reissen. Und damit nicht genug. Der Inka wird mit seiner Sonnenreligion zu einem spannenden theologischen Herausforderer für Martin Luther, denn anders als der Mönch aus Wittenberg zeigt sich Atahualpa offen für die Klagen der revoltierenden Bauern…
Laurent Binet kehrt den kolonialistischen Blick radikal um. Das Europa 16. Jahrhunderts einmal durch die Augen eines Inkas als eine durch und durch korrupte und grausame Gesellschaft wahrzunehmen und sich über die barbarischen Sitten der Anhänger des «Angenagelten Gottes» zu mokieren, ist ein grosser Literaturspass. Also vertrauen Sie mir, ich weiss was ich tue, und lesen Sie Laurent Binets Roman «Eroberung», erschienen in der deutschen Übersetzung von Kristian Wachinger im Rowohlt Verlag.»
Dem ist nicht viel hinzufügen.
Natürlich hat der Roman märchenhafte Züge. Leserinnen und Leser, die sich allzu sehr mit Fragen befassen wie «Wie soll es möglich gewesen sein, dass die Inkas so urplötzlich ozeantüchtige Schiffe bauen und damit umgehen konnten, dass sie mit grossen Heeren innert nullkommaplötzlich aus Spanien nach Norddeutschland vorstossen konnten, etc.?», wären falsch beraten. Den Sinn des Romans sehe ich nicht darin darzulegen, wie das alles technisch funktioniert haben könnte, sondern im Auf-den-Kopf-Stellen der Perspektive. Das ist das Originelle am Roman – und das tut gut.
Binet lässt also seine Fantasie am langen Zügel laufen; ein sehr schönes Beispiel dafür ist sein allerletztes, mit dem Hauptteil seines Erzählfadens nicht einmal lose verbundenes Kapitel «Cervantes‘ Abenteuer». Dort lässt er den jungen Cervantes mit El Greco zusammentreffen und beide zusammen mit Michel Montaigne auf dessen Schloss bei Bordeaux über Gott und die Welt philosophieren, bevor die beiden Jungspunde von den herrschenden Invasoren nach der ‚Alten Welt Amerika‘ verfrachtet werden, weil dort Schriftstellerei und Malerei noch unterentwickelt und dringend auf Verstärkung durch ‚Importe‘ aus der Neuen Welt Europa angewiesen sind.
PS:
Ich sehe in Binets Roman eine gewisse Verwandtschaft mit Herbert Rosendorfers «Briefe in die chinesische Vergangenheit»: Dort steht im Zentrum ein chinesischer Kaiser, der wissen will, wie sein Reich 1000 Jahre später aussehen wird und mittels einer von seinem technischen Berater erfundenen Zeitmaschine in diese Zukunft versetzt wird. Er landet dabei im München der Jahrtausendwende und beschreibt für seinen Berater die Welt, die er dort sieht und erlebt, mit den Augen eines Chinesen aus dem Jahr 1000.