Capitalism Alone – The Future of the System That Rules the World

Capitalism Alone – The Future of the System That Rules the World
Branko Milanovic, 2020-04

Die Credentials des Autors sind unanfechtbar: vormals Chef-Ökonom der Weltbank, gegenwärtig Visiting Professor und Fakultätsmitglied am Stone Center on Socio-Economic Inequality at the Graduate Center der City University von New York; er gilt als der weltweit führende Experte zu Fragen der Ungleichheit und hat zahlreiche epochale Werke dazu veröffentlicht; die bekanntesten und wichtigsten sind: «The Haves and the Have-nots.

Das im Untertitel angesprochene „System That Rules the World“ ist der Kapitalismus. Milanovic unterscheidet dabei zwei Arten von Kapitalismus, einerseits den „liberalen meritokratischen Kapitalismus” und anderseits den „Politischen Kapitalismus” (im allgemeinen Sprachgebrauch oft dem „Kommunismus“ gleichgesetzt.

Den ersten definiert er wie Karl Marx und Max Weber; seine Schlüsseleigenschaften sind: Produktion erfolgt primär mit Produktionsmitteln, die sich in Privatbesitz befinden; privates Kapital beschäftigt gesetzlich freie Arbeitskräfte; Koordination der (wirtschaftlichen Tätigkeit) erfolgt dezentral. Er fügt noch Schumpeters Kriterium hinzu, gemäss dem die meisten Investitionsentscheide von privaten Firmen oder individuellen Unternehmern getroffen werden.

Den zweiten (politischen) definiert er anhand folgender systemischer Wesensmerkmale: 1) effiziente Bürokratie (Administration); 2) Abwesenheit der ‘rule of law’, sowie 3) Autonomie des Staates. Er ortet in dieser Definition allerdings auch folgende systemischer Widersprüche. Erstens: Forderung 1, die Notwendigkeit, zwecks Sicherstellung einer guten (effizienten) Bürokratie die Geschäfte ‘impersonal’ (d.h. frei von persönlichen Interessen) zu führen, kollidiert mit Forderung 2, der willkürlichen Anwendung des Rechts; zweitens: Forderung 2, die Abwesenheit der ‘rule of law’, erzeugt endemische Korruption; dies steht im Widerspruch mit der Grundlage, auf welcher die Legitimität des Systems beruht (nämlich im Anspruch – in meinen Worten –, das Paradies auf Erden wieder herzustellen).

Für Milanovic steht fest, dass diese beiden Systeme völlig unangefochten die einzigen Wirtschafts- oder Gesellschaftssystme sind, welche die Welt beherrschen. Kein anderes System (er verzichtet allerdings auf jeden Hinweis, welche das sein könnten) war auch nur annähernd je so erfolgreich oder hätte heute noch eine nennenswerte Bedeutung. Für ihn sind die USA und China die Prototypen des „liberalen meritokratischen Kapitalismus“ (USA) beziehungsweise „politischen Kapitalismus“ (China).

Mich erstaunt, dass dabei Marx oder Russland – oder die russische Revolution – kaum eine Rolle spielt; er zählt zu den erwähnens- und untersuchenswerten Beispielen praktisch ausschliesslich „societies that were colonized or de facto colonized, such as China”. In der ausführlichen ökonomischen Analyse erscheinen dann als Beispiele Vietnam, Malaysia, Laos, Singapore (!), Algeria, Tanzania, Angola, Botswana, Ethiopia, Rwanda. Indien fehlt ohne Erklärung.

Das Buch, obwohl offensichtlich in erster Linie für Ökonomen gedacht (siehe die zahllosen Statistiken) liest sich flüssig und ist spannend. Allerdings fallen mir folgende Eigenschaften auf:

  • Milanovic arbeitet nur mit Durchschnittswerten pro Land oder Region. Das ist meines Erachtens mindestens insofern problematisch, als ein Durchschnittswert für ein Land wie China, in dem meinetwegen 400 Millionen Einwohner einen vergleichsweise hohen, fast westlichen Lebensstandard haben, jedoch 900 Millionen immer noch in mittelalterlichen Armutsverhältnissen leben, kaum mit dem Durchschnittswert der USA verglichen werden kann.
  • Der Erfolg der Länder mit ‚politischem Kapitalismus‘ ist relativ; sie haben zwar in den letzten Jahrzehnten beachtliche Erfolge und BSP-Fortschritte erzielt, haben aber auf einem Niveau begonnen, das die westlichen Gesellschaften schon vor 3-4 Jahrhunderten hatten. Die Frage, ob diese Länder und Gesellschaften, ihr System halten können, wenn sie einmal den westlichen Lebensstandard erreicht haben werden, wird von Milanovic weder angesprochen noch beantwortet.
  • Er behandelt auch die Frage nicht, ob es sinnvoll sein könnte, dass Länder, die – aus welchen Gründen immer – wirtschaftlich zurückgeblieben sind, während einer ‚brachialen‘ Aufholphase ein anderes Führungs- und Gesellschaftssystem (z.B. so etwas wie den ‚politischen Kapitalismus’) benötigen als nach der Aufholphase. Wie oben erwähnt, stellt sich dann allerdings und zwingend auch die Frage, wie denn ein Übergang zu einem Gesellschaftssystem mit mehr demokratischer Mitwirkung der Bevölkerung, mehr Freiheit und Optionen für die einzelnen Menschen, aussehen, gestaltet und eingeführt werden könnte, ohne den erreichten Wohlstand wieder zu zerstören.
  • Afrika kommt im Buch kaum vor, obwohl es der zurzeit ärmste Kontinent mit dem grössten erwarteten Bevölkerungswachstum ist und deshalb auch dem grössten Aufholbedarf an Wohlstandswachstum ist – und sich damit wohl auch zum am stärksten wachsenden Verbraucher von Ressourcen und Verursacher der ungebremsten Klimaerwärmung entwickeln dürfte.
  • Die Klimaerwärmung und deren potentielle wirtschaftliche Folgen und Systembrüche werden ebenfalls nicht angesprochen.
  • Alle Phänomene werden von Milanovic letztlich auf ihre Wirkung auf die Ungleichheit reduziert. Mich erinnert das an den satirisch konzipierten ‚Professor Gurke’, der von sich behauptete, zu jedem Thema aus dem Stegreif eine geschliffene druckreife Rede von 5-10 Minuten halten zu können; als Beispiel hielt er eine Rede über die Gurke. Anschliessend hielt er auf Zuruf von Zuhörerinnen und Zuhörern eine Reihe von Reden zu beliebigen anderen Themen. Aber bei jedem Thema schwenkte er bei der Gelegenheit, die sich aus der Geschichte ergab, auf sein Gurkenreferat ein und spulte den Rest seines Gurkenreferats weiter ab. Das typische Beispiel dafür war das Thema «Die Fahrt ins Blaue»; bei der ersten Kurve, die seine Ausflugsfamilie fuhr – sie hatte die Krümmung einer Gurke –, fand er nahtlos den Übergang zum Gurkenreferat. Milanovic landet wie Professor Gurke immer wieder bei der Ungleichheit. Allerdings erklärt er weder, weshalb die Ungleichhheit per se ein Problem wäre, oder mit welchen Mitteln sie beseitigt, oder mindestens dauerhaft reduziert und auf dem gewünschten (nach welchen Kriterien und mit welcher Autorität bestimmt, bleibt offen) Niveau gehalten werden könnte. Er gibt auch keine Hinweise darauf, welches Niveau von Ungleichheit gerade noch gesellschaftsverträglich oder überhaupt erträglich wäre. Da ziehe ich doch Harry G. Frankfurt vor, der sinngemäss gesagt hat: „Not inequality is the problem, stupid, but poverty.”

Der Ausblick von Milanovic enttäuscht. Er bringt einige Szenarien, wie die beiden Hauptformen des Kapitalismus konvergieren könnten und identifiziert fünf denkbare Variationen (siehe Detailbeschreibung auf Seiten 215ff):

  • klassischer Kapitalismus
  • sozial-demokratischer Kapitalismus
  • liberal-meritokratischer Kapitalismus
  • Volkskapitalismus
  • egalitärer Kapitalismus

Mich überzeugen diese Szenarien nicht. Es fehlen Argumente, wie es zum einen oder anderen kommen könnte, es fehlen Kriterien, welche in den politischen Systemen den Ausschlag für die eine oder andere Variante geben könnten. In einem Wort: ich halte diese Szenarien für Kopfgeburten – im buchstäblichen und übertragenen Sinn ohne Hand und Fuss.

Ich vermisse im Buch eine klare Analyse der verschiedenen Systeme aus der Vogelperspektive, die z.B. Karl Popper in seinem epochalen Werk «Die offene Gesellschaft und ihre Feinde» einnimmt (er erwähnt Popper mit keinem Wort). Für Popper gibt es im Wesentlichen zwei grundverschiedene Möglichkeiten, Gesellschaftsordnungen entstehen und sich verändern zu lassen, beziehungsweise sie zu gestalten. Die eine besteht darin, offene Gesellschaften à la unsere heutigen westlichen zu ertragen, die auf Freiheit gegründet sind und deshalb fehlerhaft sein müssen; die sich in kleinen Schritten, zur Lösung konkreter existierender Probleme oder Schwächen, per ‚trial and error‘ weiterentwickeln, ohne dabei ein finales Ziel im Auge zu haben. Die andere besteht im ‚grand design‘ von Social Engineers, die a priori eine feste Vorstellung, oder eine fixe, quasi-religiöse Idee vom idealen Zustand der Welt und vom richtigen Weg dazu haben.

Milanovic ist ein Technokrat und hat ein technokratisches Buch geschrieben. Die Lebenswirklichkeit der Menschen scheint ihn nicht besonders zu interessieren. Ob er damit einen Beitrag dazu leistet, dass seine Wissenschaft den Beinamen ‚dismal science‘ trägt, lasse ich offen.

Trotzdem: ein lesenswertes, wenn auch schwieriges Buch – es regt zum Denken und Nachdenken an.

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