
(‚crawdads‘ wird in einigen US-Südstaaten als Synonym für ‚crawfish‘ und dies wiederum als Synonym für ‚crayfish‘ verwendet, heisst also ‚Flusskrebs‘; der Ausdruck «Where the Crawdads sing» bezeichnet eine Landschaft, in welcher die ‚critters‘ (Kleintiere, Kriechtiere, umgangssprachlich ‚kleine Viecher‘ noch wild und ursprünglich sind)
Kya, jüngstes von 5 Geschwistern, wächst in äusserst prekären Verhältnissen in den Sümpfen der Küstengebiete von North Carolina auf. Ihr Vater ist versehrter Vietnamkriegs-Veteran, schwerer Säufer und gewalttätig, schlägt Frau und Kinder bis zur Bewusstlosigkeit (der Opfer). Es gelingt ihm, als gerissener Hochstapler die Tochter einer reichen Südstaaten-Grundbesitzerfamilie zu bezirzen und zu heiraten. Nach der Verarmung der Familie (eine Baumwoll-Seuche macht den Grundbesitz der Familie der Frau wertlos); nach Versaufen und Verspielen des verbleibenden Familiensilbers zieht er mit Frau und Kindern in die verlotterte Hütte eines Familienvorfahren in North Carolina. Die älteren drei Geschwister von Kya verlassen sukzessive die Familie; vom zweitjüngsten Bruder lernt die erst 5- bis 6-jährige Kya, wie man sich in der wilden Natur der Küstenlandschaft durchschlagen kann; als sie fünfjährig ist, verlassen auch ihre Mutter – quasi in Notwehr gegen ihren Mann – und ihr Bruder die Rumpffamilie; während einer kurzen Periode wird ihr Vater fast ‚normal‘, trinkt fast nicht mehr, lebt friedlich mit seiner Tochter zusammen, schätzt ihre Rolle als ‚Familienmutter‘, verschwindet aber schliesslich völlig spur- und nachrichtenlos auch und hinterlässt seine inzwischen siebenjährige Tochter allein in den karolinischen Sümpfen. Kya schlägt sich wacker durch; es gelingt ihr, mit Muschelnsammeln ein kärgliches Einkommen zu erzielen und zu überleben. Sie versucht sogar, sich einzuschulen, aber als in ihrem Dorf (meilenweit von ihrer Hütte entfernt), ist sie als ‚Marschmädchen‘ verfemt und verhöhnt, bricht sie das Experiment nach dem ersten Tag ab. Sie bleibt also Analphabetin. Dank den Instruktionen ihres Bruders, und dank ihrem eigenen tiefen Interesse für die Natur ihres Terrains beginnt sie, Muscheln, Vogelfedern, Pilze und Blumen zu sammeln und ihre Funde mit Zeichnungen, auch über die Fundorte, so zu dokumentieren, dass eine eindrückliches Inventar der Sumpf- und Marschlandschaft von North Caroline entsteht. Kontakte mit ihrer Umwelt und anderen Menschen hat sie nicht. Im Gegenteil: allen Versuchen der Behörden, sie aufzufinden und quasi ‚von Gesetz wegen‘ zu zivilisieren, kann sie sich entziehen.
Die Erfahrung des Verlassenwerdens prägt Kya tief; sie dominiert ihr Leben bis zum Erwachsenwerden vollständig und wird sie während ihres ganzen Lebens begleiten.
Der Roman beschreibt sehr feinfühlig und einsam, wie Kya in ihrer Einsamkeit allein zurecht kommt, wie sie als von der Gesellschaft Ausgestossene von ganz wenigen Menschen, die selbst auch Ausgestossene sind (nämlich Schwarze im ehemaligen Südstaat North Carolina), unterstützt und über Wasser gehalten wird. Wunderschöne Naturschilderungen und eine Begegnung mit einem jungen Mann, der die Natur ebenso liebt wie sie, zeigen ihr, dass ihr Leben reicher sein kann als Muscheln sammeln und Maisbrei. Sie lernt Lesen und Schreiben und beginnt, ihre Sammlung von seltenen Naturobjekten so zu organisieren, dass sie zur Grundlage von späteren wissenschaftlichen Werken über die Natur der Region werden. Aus der Geschichte des ‚coming of age‘ einer jungen Frau entwickelt sich ein spannender Kriminalroman. Kya wird als Hauptverdächtige in einen Mordfall verwickelt. Erst ganz am Ende des Buches und von Kyas Leben bekommt die Kriminalgeschichte eine überraschende und gleichzeitig versöhnliche Andeutung einer Auflösung.
Das Buch ist grossartig und eine wunderbare Entdeckung. Ich kann dem Klappentext, dass es in eine Reihe mit Mark Twains Huckleberry Finn (et al) gehört, vorbehaltlos zustimmen.
PS:
Delia Owens Werk ist eine Aufforderung, jetzt endlich einmal diese Region der amerikanischen Ostküste zu bereisen, ohne Hetze, mit Musse und viel Zeit, und mit der Bereitschaft, in die Landschaft und Gesellschaft von Kya einzutauchen.