Die offene Gesellschaft und ihre Feinde – Band II: Falsche Propheten: Hegel, Marx und die Folgen

Die offene Gesellschaft und ihre Feinde – Band II: Falsche Propheten: Hegel, Marx und die Folgen
Karl Popper, 2019-14

Popper hatte seine «Die offene Gesellschaft» als ein Buch konzipiert; der Verleger machte daraus zwei separate Bände. Die Kapitel der beiden Bände sind jedoch durchnummeriert.

In Band II stehen die gemäss Popper ‚falschen Propheten‘ Hegel und Marx im Zentrum. Er macht dabei einen grossen Sprung direkt von den grossen griechischen Philosophen Platon und Aristoteles des 4. und 3. vorchristlichen Jahrhunderts zu Hegel im 19. Jahrhundert. Das einleitende Kapitel 11 viel versprechend überschrieben mit «Der Aufstieg der orakelnden Philosophen».

Zunächst stellt er Aristoteles, Platons Lieblingsschüler, vor. Er charakterisiert ihn, trotz oberflächlichen und von ihm selbst betonten Gegensätzen zu Platons Lehren, als im Kern lupenreinen Platonisten; er verteidigte die Vorherrschaft des Adels und der Weisen, sprach ‚Banausen‘ oder ‚Professionellen‘, d.h. den Berufsleuten, die ihre Tätigkeit ausübten, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, und natürlich erst recht den Sklaven, jedes Recht auf Mitwirkung am politischen Leben oder an gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen ab, Und insbesondere bedeutete für ihn das Prinzip ‚gleiches Recht für alle‘ nur die Gleichberechtigung der Adligen oder Bürger. Bürger sind die Herrscher, die das Land besitzen, und die selber weder arbeiten noch Geld verdienen dürfen. Einzig Jagd, Krieg und ähnliche Liebhabereien sind ihrer würdig.

Im Unterschied zu Platon hält Aristoteles Veränderungen nicht für grundsätzlich schlecht. Für Platon befand sich die Welt im Urzustand in einem von göttlicher Hand geschaffenen Zustand der Vollkommenheit, von dem aus jede Veränderung zwingend ein Verfall sein muss. Aristoteles lässt Veränderungen zu, sofern sie Verbesserungen, also fortschrittlich sind. Massgebend ist für ihn dabei die Endursache oder das Ziel. «Insofern die Endursache ein Ziel oder ein gewünschter Zweck ist, ist sie auch gut. Daraus folgt, dass ein Gutes nicht nur der Ausgangspunkt einer Bewegung sein kann, … , sondern dass ein Gutes auch an ihrem Ende stehen muss.» (Seite 10)

Aristoteles leistete gemäss Popper keinen direkten Beitrag zum Historizismus. Seine Theorie der Veränderung kommt jedoch «einer historizistischen Interpretation entgegen»; auch weil sie «alle Elemente enthält, die zum Aufbau einer grandiosen historizistischen Philosophie notwendig sind.» (Seite 11)

Bevor Popper mit seiner Analyse der historizistischen Philosophie Hegels beginnt, macht er einen Exkurs in die von Aristoteles entwickelte essentialistische Definitionsmethode. «Das Problem der Definitionen und des ‚Sinnes der Begriffe‘ steht in keinem unmittelbaren Zusammenhang mit dem Historizismus. Es war aber eine unerschöpfliche Quelle von Verwirrung und jener eigentümlichen Kunst des Wortemachens, die sich im Geist Hegels mit dem Historizismus vereinigte und dadurch jene giftgeschwängerte intellektuelle Zeitkrankheit erzeugt, die ich die orakelnde Philosophie nenne. Es ist ausserdem die wichtigste Quelle des intellektuellen Einflusses Aristoteles’, der bedauernswerterweise noch immer vorherrscht, die Quelle all des wortreichen und leeren Scholastizismus, der nicht nur im Mittelalter sein Unwesen trieb, sondern der auch unsere zeitgenössische Philosophie heimsucht» (Seite 15). Popper fasst die Entwicklung des Denkens seit Aristoteles so zusammen: «Jede Disziplin, die die aristotelische Methode des Definierens verwendet hat, blieb in einem Stadium leerer Wortmacherei und in einem unfruchtbaren Scholastizismus stecken, und das Ausmass, in dem die verschiedenen Wissenschaften fähig waren, Fortschritte zu machen, hing ab von dem Ausmass, in dem sie fähig waren, sich von dieser essentialistischen Methode zu befreien. (Das ist der Grund, warum ein so grosser Teil unserer ‚Sozialwissenschaften‘ noch immer im Mittelalter steckt.) …

Wie Platon unterschied auch Aristoteles zwischen Wissen und Meinung. Wissen oder Wissenschaft kann nach Aristoteles von zweifacher Art sein. Es ist entweder demonstrativ oder intuitiv. Demonstratives Wissenist zugleich ein Wissen von den ‚Ursachen‘. Es besteht aus Sätzen, die bewiesen werden können – den Konklusionen (Schlusssätzen) – und ihren syllogistischen Beweisen (die die ‚Ursachen‘ oder ‚Gründe‘ in ihrem Mittelbegriff aufdecken). Intuitives Wissen besteht im Erfassen der ‚Form‘ oder ‚Essenz‘ oder der wesentlichen Natur eines Dinges (wenn dieses ‚unmittelbar‘ ist, d.h., wenn seine ‚Ursache‘ oder sein ‚Grund‘ mit seiner wesentlichen Natur identische ist); es ist die Quelle aller Wissenschaft, da es die ursprünglichen und grundlegenden Prämissen aller Beweise erfasst.)» (Seite 15/16)

Die schwierige Frage, wie wir zu Definitionen oder Grundprämissen kommen können, beantwortet Aristoteles nicht sehr klar; letztlich aber folgt er Platon, der lehrte, dass wir die Ideen mit Hilfe einer unfehlbaren Intuition erfassen können. Die Quintessenz des aristotelischen Ideals von vollkommenem und vollständigem Wissen läuft darauf hinaus, dass «das Endziel aller Forschung in der Zusammenstellung einer Enzyklopädie der durch Intuition gewonnenen Definitionen aller Wesenheiten bestand, d.h. in der Zusammenstellung der Namen aller Wesenheiten zusammen mit ihren Definitionsformeln; und dass für ihn der Fortschritt der Wissenschaft in der allmählichen Ansammlung einer solchen Enzyklopädie bestand, …» (Seite 18).

Auf Seiten 18 – 34 zerlegt und widerlegt Popper dieses statische und Endgültigkeit beanspruchende Verständnis von Wissen à fond, und er argumentiert überzeugend, dass und warum es den Methoden der modernen Wissenschaft schärfstens widerspricht. Er hält fest, dass wissenschaftliche ‚Wahrheiten‘ nie absolut sein können, sondern immer nur vorläufig gültig sind, nämlich bis sie falsifiziert werden. Er bringt diese Vorläufigkeit auf folgende Formel: «Wir können also sagen, dass wir auf unserer Suche nach der Wahrheit die wissenschaftliche Sicherheit durch den wissenschaftlichen Fortschritt ersetzt haben.» (Seite 19)

Kapitel 12 («Hegel und der neue Mythos von der Horde») beginnt Popper mit einem Verriss Hegels, der so schön und sarkastisch überzeugend ausfällt, dass eine Zusammenfassung ein Sakrileg wäre. Die Seiten 35ff müssen im Originalton Popper genossen werden. Er zitiert darin auch ausführlich Schopenhauer, der Hegel persönlich gekannt hat und ihn mindestens so innig in der Luft zerfetzt wie Popper. Die Beurteilung Hegels durch Popper dürfte durch seine Erwiderung auf das Lob eines grossen Hegelbewunderers treffend auf den Punkt gebracht sein; der Bewunderer sagte: «Und in Berlin blieb er (gemeint ist Hegel) bis zu seinem Tod im Jahr 1831, der anerkannte Direktor einer der mächtigsten philosophischen Schulen in der Geschichte des Denkens.»; Popper kommentiert dies so: «Ich glaube, wir sollten ‚Denken‘ durch ‚Gedankenlosigkeit‘ ersetzen; denn es leuchtet mir nicht ein, was ein Diktator, selbst ein Diktator der Philosophie, mit der Geschichte des Denkens zu tun hat.» (Seite 44)

Zu Poppers Verriss der Hegel’schen Gedankenwelt – oder eben dessen Gedankenlosigkeit – ist nichts hinzuzufügen. Allein jedoch auf Basis der ausführlichen Zitate Poppers aus den Hegel’schen Werken ziehe ich den Schluss, dass eine Philosophie, die in so unlesbar verschwurbelten, pathetischen, gestelzten und nebulösen Sätzen daherkommt, nicht verdient, ernst genommen zu werden.

Und jetzt zu Marx. In den Kapiteln 13 bis 17 beschäftigt sich Popper mit Marx’ Methode, im speziellen mit dessen soziologischem Determinismus, mit der Theorie der Autonomie der Soziologie, mit dem ökonomischen Historizismus, dem Begriff der Klassen und dem Rechtssystem sowie dem sozialen System von Marx.

Hier schimmert – das ist jedenfalls mein Eindruck – die marxistische Jugend von Popper durch, indem er den methodischen Ansatz von Marx in mancher Hinsicht verteidigt; dies gelingt ihm aber nur ansatzweise, indem er im Zweifelsfall Marx so lange interpretiert und umdeutet, bis dessen Theorien annehmbar werden. So stimmt er beispielsweise Marx’s Epigramm zu: «Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, dass ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, dass ihr Bewusstsein bestimmt.» Unter ‚Sein‘ versteht Popper im Wesentlichen die gesamten gesellschaftlichen und institutionellen Lebensbedingungen, in denen Menschen sich befinden; es wird aber keineswegs klar, ob Marx den Begriff auch so verstanden und angewendet hat. In den Erläuterungen macht Popper aber durchaus klar, dass dieser Gegensatz nicht ein Entweder-oder ist, sondern ein Sowohl-als-auch; d.h. es gibt Situationen, in denen das ‚Sein‘ das Bewusstsein prägt, aber ebenfalls solche, in denen das Bewusstsein das ‚Sein‘ plant, formt oder bestimmt. Es wäre meines Erachtens klüger und besser nachvollziehbar, die von Marx dogmatisch postulierte Dichotomie zwischen Sein und Bewusstsein abzulehnen und unmissverständlich darauf hinzuweisen, dass hier ein ständiges Wechselspiel und gegenseitiges Aufeinander-Einwirken dieser beiden Pole besteht. Was Popper macht, zuerst Marx zuzustimmen, und dann in den Erläuterungen die gegenteilige oder mindestens stark relativierende Auffassung zu verstecken, ist im Grunde unredlich.

Mir scheint auch, dass sich Popper irrt, wenn er die Idee des historizistischen Determinismus von Marx unkritisch akzeptiert: «Das Reich der Freiheit beginnt in der Tat erst da, wo das Arbeiten, das durch Not und äussere Zweckmässigkeit bestimmt ist, aufhört; es liegt also der Natur der Sache nach jenseits der Sphäre der eigentlich materiellen Produktion.» (Seite 122) Ich habe jedenfalls keinen einzigen Hinweis darauf gefunden, dass die Arbeit nicht zwingend durch Not und äussere Zweckmässigkeit bestimmt sein muss, sondern auch ein tragendes Element der Sinnstiftung sein kann und letztlich auch einem menschlichen Grundbedürfnis entspricht. Die ‚Verteufelung‘ von Arbeit als Zwang, als Entfremdung, Ausbeutung und Unterdrückung mag für Gewerkschaften und Sozialisten politisch für den Stimmenfang nützlich sein, ist aber gesellschaftlich höchst problematisch, konfrontativ und ausgrenzend. Mit keinem Wort erwähnt Popper überdies, wovon der Mensch, der sein ‚Reich der Freiheit‘ erreicht hat, denn leben soll.

Am Schluss von Kapitel 15 relativiert Popper Marx’ historischen Materialismus, den er zuvor als gute Theorie und Antithese zum Hegel’schen Idealismus unterstützt hat, indem er sagt:

«… Aber ich wollte zeigen, dass Marx’ ‚materialistische Geschichtsinterpretation‘, so wertvoll sie auch ist, nicht zu ernst genommen werden darf; dass wir in ihr nicht mehr sehen dürfen als einen höchst wertvollen Vorschlag, die Dinge im Verhältnis zu ihrem ökonomischen Hintergrund zu betrachten.» Mir kommt das vor, wie wenn einer sagt: «Die päpstliche Unfehlbarkeit halte ich für richtig; aber wir dürfen das, was die Päpste ex cathedra verkünden, nicht wörtlich nehmen. Es sind letztlich nur Vorschläge, mit denen wir uns ernsthaft auseinandersetzen sollen.»

Zwischenbemerkung zu Begriff und Konzept ‚Dialektik‘: These steht gegen Antithese, als Ergebnis (einer gesellschaftlichen Auseinandersetzung) ergibt sich – auf höherer Ebene – die Synthese. Aus meiner Sicht ist das nichts als inhaltsleeres Geschwafel. Aus These und Antithese ergibt sich nie eine Synthese. Widersprüchliche Thesen sind zu hinterfragen, zu falsifizieren oder zu bestätigen. Wenn These und Antithese wirklich gegensätzlich sind, können im Sinne der Logik nie beide richtig oder ‚wahr‘ sein. Entweder ist eine der beiden falsch oder beide. Eine falsche These ist zu verwerfen; sie ergibt nie einen Beitrag zu einer Synthese. Handelt es sich bei den Thesen nicht um Tatsachenfeststellungen, die man verifizieren oder falsifizieren kann, sondern um Wertepositionen, ergibt sich– je nach Machtkonstellation – ebenfalls die Ablehnung oder Unterdrückung von einer der beiden, oder eine Koexistenz, wenn (in der Gesellschaft) beide nebeneinander möglich oder zugelassen sein sollen, oder um einen Kompromiss, wenn Teile von beiden zugelassen werden sollen und daraus eine neue These entstehen kann.

In Kapitel 17 («Das Rechtssystem und das soziale System») beginnt Popper (endlich) mit seiner Kritik. Gemäss Popper basiert die Theorie von Marx auf folgenden grundlegenden Thesen:

  • Die gesamte Entwicklung der Zivilisation wird von der Ökonomie, d.h. von den ökonomischen Verhältnissen getrieben. Alle Versuche, diese Entwicklung mit politischen Massnahmen zu steuern, sind wirkungslos.
  • In den gegebenen ökonomischen Verhältnissen beherrscht eine Klasse (die Bourgeoisie) alle anderen Bevölkerungsschichten oder Klassen. Zur Beherrschung gehören Entfremdung, Ausbeutung, Versklavung. Die beherrschten Klassen sind gezwungen, wenn sie ihr nacktes Überleben sicherstellen wollen, ihre Leistung (Arbeitskraft) den herrschenden Schichten zu bestenfalls existenzsichernden Bedingungen zu verkaufen; d.h. sie haben keinerlei Chancen auf sozialen Aufstieg, auf Verbesserung ihrer Lebensbedingungen, auf Bildung oder freie Wahl ihres Lebensstils oder ihrer Erwerbstätigkeit.
  • Jede Regierung, auch die Demokratie, ist eine Diktatur der herrschenden Klasse über die beherrschte Klasse. Schliesslich entsteht daraus der Klassenkampf, eine soziale Revolution, die in einer Einklassengesellschaft, d.h. in einer klassenlosen Gesellschaft, in der Diktatur des Proletariats resultiert. Der Staat wird dadurch jeder Funktion beraubt und muss verschwinden. «Er stirbt ab.» (Zitat Engels, Seite 141)

Es mag sein, dass in der Zeit, in welcher Marx lebte, seine Erfahrungen sammelte und seine Lehre formulierte, diese Theorie plausibel erschien. Aber diese Plausibilität sieht man nur, wenn man verkennt, dass die Entwicklung von Gesellschaften eine dynamische Angelegenheit ist, d.h. dass sie nicht einer historisch vorgelegten unabänderlichen Spur folgt. Marx übersieht sowohl die Tatsache, dass auch Kapitalisten (im Sinne des Begriffs um die Mitte des 19. Jahrhunderts) lernfähig sind, dass sich die Gewichte der industriellen Produktion beziehungsweise der Dienstleistungssektors laufend zugunsten des Dienstleistungssektors verändern, oder dass der damals sehr hohe Anteil der in der Landwirtschaft oder generell der Produktion von Lebensmittel tätigen Bevölkerung dank technischer Fortschritte kontinuierlich bis auf ein beinahe vernachlässigbares Niveau absank.

Aus meiner Sicht war die Theorie von Marx schon in seiner Zeit bezüglich

  • der angenommenen Starrheit und Reformunfähigkeit der bestehenden politischen Systeme,
  • des fast religiös zelebrierten Denkens in homogenen Klassen (unter Verleugnung von Klassen-internen Gegensätzen und Interessenkonflikten),
  • sowie der behaupteten Unfähigkeit der Kapitalisten, die Grenzen der Existenzmöglichkeiten eines unbeschränkt handelnden Kapitalismus einzusehen,
  • und insbesondere bezüglich des prophezeiten ‚zwingenden‘ Endzustands

viel zu statisch.

Ausserdem ist Marx inzwischen durch die tatsächliche Entwicklung der westlichen Gesellschaften mehr als widerlegt. Die Vorstellung einer klassenlosen Gesellschaft, in der sich ein Staat mit seinen Ordnungsfunktionen erübrigt, weil rundum nur Friede, Freude und Eierkuchen herrscht, ist so konträr zur menschlichen Natur (die von Darwin – noch vor der Veröffentlichung von Das Kapital – als inhärent kompetitiv erkannt und beschrieben worden war), so naiv, weltfremd und abgehoben, dass sich eine vertiefte und ernsthafte Auseinandersetzung mit den Beobachtungen, Begründungen und Argumenten, die Marx zu seinen Lehren und Prophezeiungen führten, erübrigt. Popper unternimmt es trotzdem, auf rund 100 Seiten in minutiösem Detail alle Elemente der Marx’schen Lehre zu analysieren. Er findet viele Feststellungen, in denen er Marx zustimmt, widerlegt jedoch alle dessen Schlussfolgerungen und Rezepte, sowohl mit logischen Argumenten als auch mit empirischen Feststellungen. Auch hier habe ich den Eindruck, dass Popper geradezu süchtig Elemente herausstreicht, bei denen er Marx ‚grossartige‘ oder ‚bahnbrechende‘ Beobachtungen und Erkenntnisse zuschreibt; ob diese im Sinne einer nachträglichen Rechtfertigung seiner eigenen marxistischen Vergangenheit geschieht, oder um bei Marxisten eine Art von ‚captatio benevolentiae‘ für seine anschliessende Verwerfung der Marx’schen Lehre insgesamt ist, bleibt offen. Mir scheint eher, dass er die Marx’schen Beobachtungen als so grossartig und einzigartig beurteilte, weil Marx als erster auf diese irren Gesellschaftstheorien gekommen war; es spricht ja auch nicht für die Grossartigkeit der Marx’schen Botschaft, dass sie seit Marx von keinem ernstzunehmenden Wissenschaftler in Teilen oder ganz bestätigt worden wäre – sie wird bestenfalls von ideologisierten Jüngern nachgebetet. Die einschlägigen Ausführungen von Popper sind – obwohl etwas langfädig und teilweise redundant – lesenswert, weil sie ein glänzend formuliertes Musterbeispiel für eine gründliche und logisch unbestechliche Auseinandersetzung mit Theorien sind, die intuitiv unplausibel erscheinen. Für eine Kostprobe verweise ich auf Seiten 217 bis 219, auf denen Popper die Prophezeiung der zunehmenden Verelendung (des Proletariats) mit offenkundigem Gusto in ihre irr(ig)en Bestandteile seziert. Besonders pikant, geradezu amüsant und süffisant hält er die Klagen von Marx und Engels darüber fest, dass «das ‚englische Proletariat‘ …, statt zu leiden, wie man es von ihm erwartete, faktisch mehr und mehr verbürgert.» Die ‚Verbürgerlichung des Proletariats’ als Verstoss gegen die Marx’sche Lehre muss man sich auf der Zunge vergehen lassen…

Jetzt interessieren eigentlich primär nur noch die Popper’schen Kapitel über die Folgen der ‚falschen Propheten‘ (d.h. Kapitel 23 bis 25).

Poppers Hauptanliegen ist die Kritik und Widerlegung des Historizismus, d.h. aller Geistesrichtungen, Philosophien oder Religionen, die behaupten, das Schicksal der Menschen sei durch die Geschichte vorbestimmt; die Menschen hätten bloss die Möglichkeit, sich so zu verhalten, dass der Sinn oder das Ziel der Geschichte möglichst direkt oder möglichst gut erreicht werde. Für Popper sind die Lehren Platons, Hegels oder Marx’ alle historizistisch.

Zu Poppers Kritik am Historizismus gehört auch die Überzeugung, dass jede ‚Sozialtechnik‘, die gesellschaftliche Veränderungen nach einem ‚grand design‘ verfolgt, also den grossen Wurf anstrebt, zum Fiasko führen muss; für Popper gibt es nur gesellschaftlichen Fortschritt auf der Basis von ‚Versuch und Irrtum‘, also von kleinen, überprüfbaren und im Misserfolgsfall auch widerrufbaren kleinen Schritten. Dies aber bedingt, dass die Menschen ihre gesellschaftlichen Zielvorstellungen selber entwickeln und die Verantwortung für alle Massnahmen der Umsetzung selbst zu übernehmen bereit sind.

Am besten ist es, den Schluss der «Offenen Gesellschaft und ihre Feinde» im Originaltext zu lesen: deshalb beende ich diese Besprechung mit den letzten drei Seiten von Band II:

(ab Seite 326) …glücklicherweise im Abnehmen begriffen zu sein. Der Unbekannte Soldat zeigt dies. Wir beginnen einzusehen, dass ein Opfer ebensoviel und vielleicht noch mehr wert ist, wenn es anonym gebracht wird. Unsere moralische Erziehung muss dieser Einsicht folgen. Wir müssen lernen, unsere Arbeit zu tun, unsere Opfer um dieser Arbeit willen zu bringen und nicht um des Ruhmes willen oder um Schande zu vermeiden. (Dass wir alle eine gewisse Ermunterung, Hoffnung, Lohn und sogar Tadel brauchen, ist eine völlig andere Sache.) Wir müssen unsere Rechtfertigung in unserer Arbeit finden, in dem, was wir selbst tun, und nicht in einem fiktiven ‚Sinn der Geschichte’

Die Geschichte hat keinen Sinn; das ist meine Behauptung. Aber aus dieser Behauptung folgt nicht, dass wir nichts tun können, dass wir die Geschichte der politischen Macht mit Entsetzen akzeptieren müssen oder dass wir gezwungen sind, sie als einen grausamen Scherz hinzunehmen. Denn wir können sie interpretieren mit dem Blick auf jene Probleme der Machtpolitik, deren Lösung wir in unserer eigenen Zeit versuchen wollen. Wir können die Geschichte der Machtpolitik interpretieren im Sinn unseres Kampfes für die offene Gesellschaft, für eine Herrschaft der Vernunft, für Gerechtigkeit, Freiheit, Gleichheit und für die Kontrolle des internationalen Verbrechens. Obwohl die Geschichte kein Ziel hat, können wir ihr dennoch diese unsere Ziele auferlegen. Und obwohl die Geschichte keinen Sinn hat, können doch wir ihr einen Sinn geben.

Es ist das Problem von Natur und Konvention, auf das wir hier stossen23. Weder Natur noch Geschichte kann uns sagen, was wir tun sollen. Tatsachen, seien es nun Tatsachen der Natur oder Tatsachen der Geschichte, können die Entscheidung nicht für uns treffen, sie können nicht die Ziele bestimmen, die wir wählen werden. Wir sind es, die Zweck und Sinn in die Natur und in die Geschichte einführen. Die Menschen sind einander nicht gleich; aber wir können uns entschließen, für gleiche Rechte zu kämpfen. Menschliche Institutionen, wie etwa der Staat, sind nicht rational; aber wir können uns dazu entschließen zu kämpfen, um sie rationaler zu machen. Wir selbst wie auch unsere gewöhnliche Sprache sind im grossen und ganzen eher emotional als rational; wir können aber versuchen, ein wenig vernünftiger zu werden. Wir können uns darin üben, unsere Sprache nicht als ein Ausdrucksmittel (wie unsere romantischen Erziehungstheoretiker sagen würden), sondern als ein Mittel der rationalen Verständigung24 zu verwenden. Die Geschichte selbst – ich meine hier natürlich die Geschichte der Machtpolitik und nicht die nichtexistente Geschichte der Entwicklung der Menschheit – hat weder ein Ziel25 noch einen Sinn; aber wir können uns entschließen, ihr beides zu verleihen. Wir können sie zu unserem Kampf für die offene Gesellschaft und gegen ihre Feinde machen; und wir können sie entsprechend interpretieren. Schliesslich lässt sich dasselbe auch über den ‚Sinn des Lebens‘ sagen. An uns liegt es, zu entscheiden, was der Zweck unseres Lebens sein soll, und unsere Ziele zu bestimmen25.

Ich halte diesen Dualismus von Tatsachen und Entscheidungen für fundamental26. Tatsachen als solche haben keinen Sinn; sie können einen Sinn nur durch unsere Entscheidungen erhalten. Der Historizismus ist nur einer der vielen Versuche, über diesen Dualismus hinwegzukommen. Er ist aus der Furcht geboren, denn er scheut vor der Einsicht zurück, dass wir die eigentliche Verantwortung tragen, selbst für die ethischen Maßstäbe, die wir wählen. Aber ein solcher aus der Furcht geborener Versuch scheint mir genau das zu sein, was man gewöhnlich einen Aberglauben nennt. Denn er nimmt an, dass wir dort ernten können, wo wir nicht gesät haben; er versucht uns einzureden, dass alles gut ausgehen wird und muss, wenn wir nur mit der Geschichte Schritt halten, dass wir selbst keine grundlegende Entscheidung zu treffen brauchen; und er versucht unsere Verantwortung auf die Geschichte und damit auf ein uns weit überragendes dämonisches Kräftespiel abzuwälzen; er versucht unsere Handlungen auf die verborgenen Absichten dieser Mächte zu gründen, auf Absichten, die uns nur in mystischen Inspirationen und Intuitionen geoffenbart werden können; und er stellt damit uns und unsere Handlungen auf das moralische Niveau eines Menschen, der, durch Horoskope und Träume inspiriert, seine Glückszahl in einer Lotterie wählt27x. Wie Glücksspiele, so ist auch der Historizismus aus unserer Verzweiflung an der Rationalität und der Verantwortung für unsere Handlungen geboren. Er ist eine entartete Hoffnung und ein entarteter Glaube, ein Versuch, die Hoffnung und den Glauben, der in unserem moralischen Enthusiasmus und in der Verachtung des Erfolges begründet ist, durch eine Sicherheit zu ersetzen, die einer Pseudowissenschaft entspringt. Und es macht keinen Unterschied, ob das eine Pseudowissenschaft von den Sternen ist, von der ‚menschlichen Natur< oder von unserem historischen Schicksal.

Der Historizismus, so behaupte ich, ist nicht nur rational unhaltbar, sondern er widerspricht auch jeder Religion, die an das Gewissen appelliert. Denn eine solche Religion muss mit der rationalistischen Einstellung zur Geschichte insofern übereinstimmen, als sie betont, dass wir für unsere Handlungen und für die Rückschl.ge dieser Handlungen auf den Lauf der Geschichte unumschränkte Verantwortung tragen. Es ist wahr – wir brauchen Hoffnung; ohne Hoffnung zu handeln oder zu leben übersteigt unsere Kraft. Aber wir brauchen nicht mehr; und man darf nicht mehr versprechen.Wir brauchen keine Gewissheit. Insbesondere die Religion sollte kein Ersatz für Träume und für Wunscherfüllung sein. Sie sollte weder dem Besitz eines Loses in einer Lotterie noch dem Besitz einer Police in einer Versicherungsgesellschaft gleichen. Der Historizismus in der Religion ist ein Element des Götzendienstes und des Aberglaubens.

Dieser Nachdruck auf dem Dualismus von Tatsachen und Entscheidungen bestimmt auch unsere Einstellung zu Ideen, wie der Idee des ‚Fortschritts’ Wenn wir glauben, dass die Geschichte fortschreitet oder dass wir selbst fortschreiten müssen, dann begehen wir denselben Fehler wie ein Mensch, der die Geschichte für sinnvoll hält und der glaubt, dass sich dieser Sinn in ihr entdecken lässt und ihr nicht verliehen zu werden braucht. Denn ‚Fortschritt‘ heißt, sich auf ein bestimmtes Ziel hinzubewegen, auf ein Ziel, das für uns als menschliche Wesen besteht. ‚Die Geschichte‘ kann dies nicht tun; nur wir, die menschlichen Individuen, können es tun. Wir können es tun, indem wir jene demokratischen Institutionen verteidigen und stärken, von denen die Freiheit und mit ihr der Fortschritt abhängt. Und wir werden es viel besser tun, sobald wir einmal die Tatsache besser erkannt haben, dass der Fortschritt bei uns liegt, dass er abhängt von unserer Wachsamkeit, von unseren Anstrengungen, von der Klarheit, mit der wir unsere Ziele vorstellen, sowie auch vom Realismus28 unserer Entscheidungen.

Statt als Propheten zu posieren, müssen wir zu den Schöpfern unseres Geschicks werden. Wir müssen lernen, unsere Aufgaben zu erfüllen, so gut wir nur können, und wir müssen auch lernen, unsere Fehler aufzuspüren und einzusehen. Und wenn wir einmal von der Idee abgekommen sind, dass die Geschichte der Macht unser Richter sein wird; wenn wir nicht mehr von der Frage besessen sind, ob uns die Geschichte rechtfertigen wird oder nicht, dann wird es uns vielleicht eines Tages gelingen, die Macht unter unsere Kontrolle zu bringen. In dieser Weise könnten wir vielleicht sogar die Weltgeschichte rechtfertigen: sie hat eine solche Rechtfertigung dringend nötig.

Das Werk Poppers hat mich tief berührt. Ich staune darüber, wie er klar, erschöpfend, teilweise beissend und sarkastisch den fundamentalen Irrtum aller Lehren (säkular oder religiös) entlarvt, die historizistisch sind, d.h. davon ausgehen, dass die Geschichte einen Sinn hat. Ich bewundere, wie er – anstelle von irgendwelchen letztlich abergläubischen Heilslehren, die den Menschen das Schicksalhafte ihres Tuns und Lassens weis machen wollen – die Eigenverantwortung, die bewusste moralische Entscheidung jedes Einzelnen ins Zentrum stellt. Die einzige Kritik, die anzubringen wäre, betrifft die Tatsache, dass Poppers Ausführungen sowohl zu lang als auch zu ‚gelehrt‘ sind. Es wäre schön, die wesentlichen Thesen Poppers kurz und knapp und lesbar zusammenzufassen und zur Pflicht-Schullektüre für alle 15-18-Jährigen zu erklären. Dies hätte den durchaus beabsichtigten Nebeneffekt, dass alle Lehrer und Pädagogen sich ebenfalls damit befassen müssten; das könnte sie eventuell davon abbringen, die gängigen Irrlehren des heutigen Mainstreams nachzuplappern – hauptsächlich, dass immer jemand anders an den Verhältnissen schuld ist, vornehmlich die böse Wirtschaft, der Neoliberalismus, oder die gierigen Manager.

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