
Auf dem Cover wird mit einer Kritik des Observer geworben: «A brilliantly constructed spy novel». Der Roman ist aber weder eine Spionage-Geschichte, noch glänzend konstruiert. Er berichtet durchaus spannend über die Hintergründe des Münchner Abkommens von September 1938, an der die Regierungschefs Hitler, Mussolini, Daladier (Frankreich) und Chamberlain (UK) die Kastrierung der Tschechoslowakei, beziehungsweise die Annexion deren sudentendeutschen Teils durch Hitlers Deutschland besiegelten.
Munich ist eine Mischung von geschichtlichen Fakten und sehr viel Fiktion, beleuchtet aber sehr deutlich, warum die historische Beurteilung des Abkommens darin den Höhepunkt der sogenannten Appeasement-Politik sieht. Der englische Premierminister Chamberlain wird als Hauptprotagonist des Appeasement präsentiert, während sein französischer Amtskollege Daladier als Statist und am lamentablen Geschehen völlig desinteressierter Nebendarsteller charakterisiert wird. Ob und inwieweit dies den geschichtlichen Tatsachen entspricht, kann ich nicht beurteilen.
Immerhin versucht der Roman, für die Motivation Chamberlains, dem aggressiven Verlangen Deutschlands nach Arrondierung seines Territoriums um weitere Gebiete mit deutschsprachiger Bevölkerungsmehrheit nachzugeben, Verständnis zu wecken. Natürlich waren es edle Motive, die ihn dazu bewogen, knapp 20 Jahre nach den Schrecken des Ersten Weltkriegs alles – auch eklatante Rechtsbrüche, das feige Im-Stich-Lassen der Tschechoslowakei – in Kauf zu nehmen, um einen weiteren grossen Krieg zwischen allen europäischen Mächten zu verhindern. Er lässt aber, wenn auch nur zaghaft durch die Blume, durchschimmern, dass es wohl für alle Beteiligten besser, d.h. das kleinere Übel, gewesen wäre, Hitler die Stirne zu bieten, als weniger als ein Jahr später dann mit dem Zweiten Weltkrieg einen sechsjährigen Weltenbrand zu ermöglichen.
Leider stehen bei aktuellen Konflikten wie etwa den russischen Expansionsgelüsten (in Georgien, in Transnistrien oder in der Ukraine), den Hegemonieansprüchen Irans im Nahen und Mittleren Osten und dessen Ambitionen auf nukleare Bewaffnung, oder den chinesischen militärischen und territorialen Ansprüchen auf das südchinesische Meer ähnliche Trade-offs zwischen Appeasement oder Frieden heute und grösseren Konflikten in näherer Zukunft zur Diskussion. Dabei geht es nicht nur um die Abwehr von territorialen oder militärischen Ansprüchen, sondern noch viel mehr um die Auseinandersetzung zwischen einerseits diktatorischen Herrschaftssystemen und anderseits dem westlichen, freiheitsbasierten Verständnis von Demokratie, Herrschaft des Rechts, Gewaltenteilung und Menschenrechten. Leider sind die Aussichten, dass letztere kräftig verteidigt werden, auch wenn es weh tut, nicht sehr rosig. Die westliche Welt riskiert, einmal mehr Opfer der eigenen Appeasement-Politik zu werden. Es sieht jedenfalls ganz danach aus, dass wir (Frösche) das immer wohlig wärmer werdende Wasser in unserem Vivarium geniessen wollen, bis wir vor lauter Hitze nicht mehr hinausspringen können.