Die grosse Regression – eine internationale Debatte über die geistige Situation der Zeit

Die grosse Regression – eine internationale Debatte über die geistige Situation der Zeit
Heinrich Geiselberger (Herausgeber), 2018-12

Vorbemerkung:

Die Buchbesprechung «Die Neoliberalen sind an allem schuld!» (René Scheu, NZZ vom 4.6.2017) hat mich zur Anschaffung und Lektüre dieses Buchs animiert. Das dort ebenfalls besprochene Manifest von alt-BR Villiger «Die Durcheinanderwelt – Irrwege und Lösungsansätze» hielt ich zunächst für entbehrlich; erst die Lektüre von Geiselsbergers Essay-Sammlung brachte mich dazu, Villiger ebenfalls zu lesen (siehe Besprechung unter Nr. 13) – als Kontrastprogramm sozusagen.

Kopie der Rezension von René Scheu:

Die Neoliberalen sind schuld!

Linke Spitzenintellektuelle sind sich weitgehend einig: Wären die Neoliberalen nicht, wäre unsere Welt eine bessere. Die utopische Hoffnung scheint verflogen, die Sehnsucht nach den guten alten Zeiten dominiert. Was hilft gegen linksreaktionäres Denken? Von René Scheu

Höchst lobenswert ist das Unterfangen, die geistige Situation der Zeit zu verstehen, gerade aus Sicht der Linken, gerade heute. Denn die linke Theorie scheint tot, seit die allerletzten Folgediskussionen um «Empire» verstummt sind, Antonio Negris und Michael Hardts Bibel des fortschrittlichen Widerstands gegen die Allherrschaft des globalen Kapitals. Das war vor vielen Jahren. Mittlerweile sind auch Negri und Hardt schon fast wieder vergessen, und so kommt der Suhrkamp-Verlag, der verschiedene hochangesehene internationale Stimmen versammelt, zur richtigen Zeit.

Die Probleme beginnen indes schon beim Titel des neuen Werks – wer behauptet, dass die avancierten Gesellschaften gerade die «grosse Regression» erleben, setzt einen beschreibbaren Gang der Geschichte voraus. Und er muss zugleich zugeben, dass er diesen Gang kennt und begrüsst. Wir bewegen uns sogleich in einem normativ angehauchten Diskurs: Die friedliche, korrekte Welt, die sich die progressiven Kosmopoliten so schön erträumt haben, geht nun leider vor ihren Augen flöten.

Die Bürger sind zu blöd

Das ist die Tonlage, die der Herausgeber, Suhrkamp-Lektor Heinrich Geiselberger, anstimmt. Er hält sich an die üblichen verdächtigen Wortungetüme, um die Schwere der gegenwärtigen Situation zu unterstreichen: Nationalismus, Populismus, Rassismus, Islamophobie. Nicht unkontrollierte Migration und Terror stellen aus dieser Sicht Probleme dar, für die es politische Lösungsvorschläge zuhanden der Bürger braucht, sondern umgekehrt die irrationale Reaktion vieler Bürger auf Migration und Terror. Und man mag folgern: Wenn sich die Leute nicht bald von ihren tiefliegenden Ängsten und Vorurteilen befreien, werden sich die neuen und die alten Bewohner der Wohlstandswelt irgendwann die Köpfe einschlagen.

Der Ruf nach Zäunen, die Verhängung des Ausnahmezustandes in Frankreich, solche Dinge sind nach Geiselberger bloss «postdemokratische Symbolpolitik» ohne Grund und Wirkung. Das neue Polittheater hat es darauf abgesehen, die Leute hinters Licht zu führen. Die politischen Eliten machen die Bürger glauben, dass man deren Sorgen ernst nimmt, ihr Land wieder gross macht – und die Bürger sind tatsächlich so blöd, auf diese Reden zu hören, die doch nur Notausreden sind. Denn der Nationalstaat hat längst abgedankt, nationale Politik ist geschickte Verwaltung der eigenen Ohnmacht.

Eine solche Logik zeugt von einem eigenartigen Fatalismus im Denken. Aber vor allem ist sie bequem: Wenn die Ursachen von Migration, Terrorismus und sozialer Unrast globaler Natur sind, lassen sie sich auch nur global lösen. Was daraus folgt, ist ein Plädoyer für Erziehung. Es bedarf in dieser Logik eines neuen weltumspannenden Wir-Gefühls, einer Weltgesellschaft. Der Kosmopolitismus, den gut ausgebildete und verdienende Oberklasse- Expats pflegen, soll zur neuen Grundbefindlichkeit auch aller anderen werden. So werden alle Wir/sie- Unterscheidungen überwunden und erlauben ein friedliches Leben bis ans Ende aller Tage. Wolfgang Streeck, ein mit allen Wassern gewaschener Linker, nennt dies den «kosmopolitischen Identitarismus». Und merkt selbstkritisch an: «Es wird lange brauchen, bis die verweltbürgerlichte Linke die Ereignisse von 2016 verstanden haben wird.» In der Tat lautet eine der Kernthesen des Bandes, die Autoren wie Slavoj Žižek, Nancy Fraser und Eva Illouz starkmachen, dass die Linken auf den neoliberalen Globalismus hereingefallen sind. Den Neoliberalismus – ein nirgendwo näher definiertes Tarnwort für die alte marxistische Idee vom frei zirkulierenden Kapital – gibt es demnach in zwei Varianten, einer «progressiven» und einer «regressiven». Im ersten Fall haben sich mächtige Finanz- und Venturekapitalisten mit linkselitären Vertretern privilegierter Minderheiten verbündet (Feministinnen, Multikulturalisten, LGBTQ, Vertreter der Kulturindustrie) – sie treffen sich da, wo es darum geht, einen diskriminierungsfreien Zugang zur Elite zu schaffen.

Im zweiten Fall haben sich kapitalistische Plutokraten mit den Modernitätsverlierern zusammengetan, um das «progressive» Establishment aufzumischen. Die Duelle entlang dieser Unterscheidung sind bekannt: Clinton gegen Trump, Macron gegen Le Pen. Die einen reden von den Chancen der Globalisierung, die anderen von der Rückkehr zur alten Grösse, doch beide sind nützliche Idioten des Kapitals. Ein paar wenige zocken ab, einige laben sich an den Brosamen, und alle anderen zahlen die Zeche. Man möchte sagen – schön wär’s, es wär so einfach.

Der Neoliberalismus ist also wieder einmal der böse Schuldige – nicht schlecht für ein reines Begriffsgespenst, das sich nicht wehren kann. Wie simpel die Argumentation trotz gehobener Rhetorik oftmals daherkommt, zeigt der Beitrag von Paul Mason, Autor des Bestsellers «Postkapitalismus». Wider Willen legt er das Argumentationsmuster linksreaktionären Denkens frei, wie es Mark Lilla jüngst beschrieben hat. Es gab also einmal ein glückliches, wohlgeordnetes Staatswesen – für das Arbeiterkind Mason wären das die angeblich blühenden 1960er und 1970er Jahre in England mit intakten Gewerkschaften und grosszügigem Sozialstaat; dann wird die Idylle jäh durch intellektuelle Aussenseiter gestört – für Mason sind das die neoliberalen Ökonomen. Bald sind alle verblendet, bis hin zu den einfachen Leuten, also den Proletariern in Masons Beispiel. Als für alle sichtbar wird, dass die Welt mit den neuen Rezepten nicht besser, sondern schlechter wird, präsentieren die verblendeten Politiker einen Sündenbock – den Immigranten und Ausländer.

Einige wenige wie Mason haben sich die Erinnerung an die gute alte Zeit bewahrt – und durchschauen das Spiel. Mason verdrängt, dass England in den 1970ern nicht nur ökonomisch darniederlag. Und beweist: Nostalgie tritt im linken Diskurs zusehends an die Stelle der Hoffnung. Revolution meint unter diesen Bedingungen Reaktion: vorwärts in die Vergangenheit.

Gutes Gegenmittel

Ein geradezu wohltuendes Antidot gegen so viel Gestrigkeit bietet Kaspar Villigers neues Buch zur Lage der Gegenwart. Als Elder Statesman geht ihm jeder Hang zur Selbstbehauptung ab, er schreibt klar, witzig und altersradikal. Schon der Titel verrät, dass er nicht zum grossen Erklärungsversuch ansetzt, sondern bei aller analytischen Brillanz bescheiden bleibt: «Die Durcheinanderwelt». Villigers Diagnose ist näher an der Lebenswirklichkeit der Menschen in westlichen Gesellschaften, ob sich diese nun abgehängt fühlen oder nicht.

Demnach leben wir angesichts von überschuldeten Staaten, konfiskatorischen Steuerlasten, Interventionismus, Sozialisierung der Wirtschaft, Ausbau des Sozialstaats und Verregulierung aller Lebensbereiche im Namen von Gleichheit und Gerechtigkeit nicht im Neoliberalismus, sondern im Sozialdemokratismus. Der global halbwegs freie Kapitalverkehr bildet bloss ein letztes Gegengewicht gegen Staatskartelle, wie sie beispielsweise die EU seit langem mehr oder minder erfolgreich etabliert. Nach Villiger brauchen wir darum nicht weniger Freiheit und Marktwirtschaft, sondern mehr davon – und vor allem mehr Freiheit im Denken.

Es gibt nach Villiger keinen Gang der Geschichte, und eine Weltgesellschaft ist im besten Fall ein Albtraum. Alles kommt immer anders. Der Mensch, dieses Stammeswesen, bleibt unberechenbar. Wenn Villiger von einer «liberalen Konterrevolution» spricht, dann meint er das Gegenteil einer marxistischen Grossoffensive: Denkt ernsthaft nach. Seid unbequem. Kämpft im Überschaubaren. Erobert die Freiräume im Kleinen. Und widersetzt euch dem ach so progressiven Zeitgeist.

«Die grosse Regression – eine internationale Debatte über die geistige Situation der Zeit» war ein Fehleinkauf und Zeitvergeudung. Scheus Rezension ist viel zu zahm; anstelle eines wohlverdienten Totalverrisses präsentiert er eine – ironiefreie – Würdigung des Gedankenguts von sogenannten ‚linken Spitzenintellektuellen‘ (dies ist offenbar eine Selbsteinschätzung der einschlägigen Autoren, oder bestenfalls eine irre Einordnung des Herausgebers. Leider relativiert Scheu den Stellenwert dieser teilweise obskuren Koryphäen nicht. Er weist leider auch nicht darauf hin, dass der Untertitel der Sammlung (‚eine internationale Debatte über die geistige Situation der Zeit‘) eine masslose Anmassung ist; die Sammlung ist weder besonders international (sie ist sehr Deutschland-lastig), noch ist es eine Debatte, denn es kommt – sowohl bei den Autoren als auch bei den von diesen zitierten angeblichen Geistesgrössen – nur linkes Gedankengut, also gegenseitiges Auf-die-Schulter-Klopfen zum Zug.

Die Grundidee der Essay-Sammlung ist, eine Auswahl von ‚linken Spitzenintellektuellen‘ ausführen zu lassen, weshalb in den letzten Jahren in vielen Ländern nationalistische, rechte oder rechtsextreme politische Strömungen einen starken Zuwachs und Zuspruch bekommen, und – salopp formuliert – weshalb Idioten wie Trump gewählt werden. Mit Ausnahme des Beitrags von Eva Illouz (die sich in erster Linie mit der Ausgrenzung der arabisch-stämmigen Juden durch die Orthodoxen befasst) und von David van Reybrouck (der in einem rührseligen Brief an EU-Kommissionspräsident Juncker für die rasche Entwicklung der EU in ein supranationales Gebilde à la Bundesstaat und somit für die Auflösung oder Kastrierung der europäischen Nationalstaaten plädiert) halten sich alle Autoren an diese Vorgabe.

Der Tenor, der sich wie ein roter Faden durch den Band zieht, ist, dass die Welt sich wegen des Aufkommens rechten Gedankenguts in einem deplorablen Zustand befindet, eben in einer ‚Regression‘; daran sind die Linken schuld, weil sie die Zeichen an der Wand nicht erkannt haben. Und jetzt haben die Linken – selbstverständlich! – die Verantwortung, die Welt wieder ins Lot zu bringen. Die Prämisse ist also, dass es ein Vorrecht der Linken – vermutlich darin begründet, dass sie die einzigen sind, die das können – ist, die Welt wieder in Ordnung zu bringen. Für diese anmassende Annahme gibt es natürlich keine Begründung. Im Gegenteil – es gilt das Axiom: links ist progressiv; progressiv ist gut; alles andere ist regressiv; und regressiv ist schlecht. Es ist unheimlich, wie angebliche ‚linke Spitzenintellektuelle‘ in diesem Chor mitsingen und nicht einmal den Versuch machen zu untersuchen, ob es zwischen ‚regressiv‘ im Sinne von rückständig, verbohrt und rassistisch einerseits und echter, d.h. begründeter progressiver Haltung anderseits keine plausiblen und wünschbaren Zwischenstufen geben könnte.

Eine mehrfache vertretene Teilthese ist die Klage über die Abgrenzung «wir versus die». So berechtigt die Kritik an den Auswüchsen dieser Ab- und Ausgrenzung sein mag, so heuchlerisch, hilflos und hanebüchen ist die stetige Implikation, eine Welt ohne Grenzen wäre wünschbar, möglich und besser als die gegenwärtige.

Die meisten Argumente und Theorien sind ideologisch untermauerte Behauptungen; wissenschaftlich haltbare Begründungen fehlen. Die Tatsache, dass wegen der Auswahl der Autoren Gegenargumente oder Gegenthesen oder ein Vergleich zwischen verschiedenen Weltsichten vollständig fehlen, macht die Lektüre der Sammlung zu einer mühsamen und unergiebigen Pflichtübung.

Methodisch kritisiere ich an der Sammlung:

  • eine totale Absenz von Begriffsdefinitionen oder -klärungen (Beispiele: Neoliberal, Finanzialisierung, Kapitalismen, Marktradikalismus)
  • Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit: einerseits wird beklagt, dass die kritisierte Spaltung zwischen ‚uns’ und ‚denen‘ (also den Abgehängten, den Trumpwählern) darauf zurückzuführen ist, dass die Eliten eine Sprache sprechen, die von einer Mehrheit der Menschen nicht (mehr) versanden wird; anderseits strotzen alle Beiträge der Sammlung von einer Sprache, die sogar für gebildete Leserinnen und Leser (zu denen ich mich in aller Unbescheidenheit zähle) unverständlich ist
  • Trump ist an allem schuld: für die meisten Beiträge beginnt die Zeitrechnung bei Trump; d.h. Trump ist an allem Elend der Gegenwart schuld; da drängen sich wirklich brennende Frage auf wie etwa:
    • Wo sind denn all die Klugscheisser gewesen, als es darum ging, Trump et al zu verhindern?
    • War die Welt vor Trump wirklich so viel besser?
    • Sind diese Trump-Fixierungen nicht lediglich Ausreden und Vernebelungen der Tatsache, dass Trump nicht die Ursache aller Übel, sondern die Folge einer abgehobenen und selbstbezogenen Haltung der sogenannten linken Eliten war und ist?
    • Im Minimum sollten die Autoren Trump dafür danken, dass es ihn gibt; denn ohne Trump hätten sie nichts mehr zu sagen und zu schreiben; oder sie wären zu seriösem Nachdenken gezwungen.

Genug geschimpft! Das Buch kann eingestampft werden. Verlust: rund Fr. 22.-

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert