Die tausend Herbste des Jacob de Zoet

Die tausend Herbste des Jacob de Zoet
David Mitchell, 2016-16

Der Roman spielt in der Zeit der letzten Jahre der niederländischen Handelsniederlassung in Nagasaki. Die niederländische Ostindien-Kompagnie (VOC; Vereeningde Oost-Indische Compagnie) war die einzige europäische Kolonialmacht, die vom japanischen Shogunat die Erlaubnis erhalten hatte, in Japan eine Handelsniederlassung zu errichten und zu betreiben. 

Jacob de Zoet wird als junger, frisch verlobter Kaufmann direkt aus Holland in die Niederlassung versetzt, um vermuteten Betrügereien von Führungskräften der Verwaltung der Niederlassung nachzugehen und diese aufzuklären. Er erlebt die Wirren der napoleonischen Jahre, in denen die Engländer versuchten, die holländischen Kolonien in Asien zu erobern. Durch eine tapfere Tat gelingt es ihm, den Verlust des japanischen Stützpunktes abzuwenden. Weil die Niederlassung – wegen der sturen Abschottungspolitik Japans – ihren erhofften kommerziellen Wert verloren hatte, wird sie von der VOC sich selbst überlassen. Ohne Schiffsverbindungen nach Batavia (Hauptsitz der VOC in Asien) oder Europa kann die Kolonie gerade knapp überleben. Dank dem diplomatischen-menschlichen Geschick von de Zoet und der medizinisch-wissenschaftlichen Potenz von Dr. Lucas Marinus (aus wissenschaftlichem Antrieb Botaniker, von Beruf Arzt der VOC) gelingt es, während der Zeit der Isolation von Europa, eine gute Beziehung zum japanischen Regime aufzubauen und zu unterhalten. Nach rund 20 Jahren der Isolation wird der Stützpunkt Nagasaki von der VOC reaktiviert; de Zoet erhält als Held der Unabhängigkeit von England attraktive Angebote für neue Aufgaben im Reich der VOC, entscheidet sich aber für die Rückkehr nach Europa. 

Der Roman gibt einen leider sehr oberflächlichen Einblick in die innere Mechanik der VOC, in das delikate und schwierige Zusammenspiel zwischen den Vertretern des Shogunats und der VOC, in die japanische Kultur sowie in die Kolonialpolitik Hollands und Englands. Leserinnen und Leser, die über die kolonialpolitischen Gegebenheiten des zu Ende gehenden 18. und des Beginns des 19. Jahrhunderts oder über die politische Situation Japans keinerlei Vorkenntnisse haben, werden vom Autor sträflich allein gelassen. Auch auf die Kultur Japans und die wesentlichen Unterschiede zwischen der europäischen und der japanischen Kultur wird kaum eingegangen. Im Vordergrund stehen das individuelle Schicksal de Zoets, die anfänglich hochnäsige Behandlung de Zoets durch Marinus und die sich entwickelnde tiefe Freundschaft der beiden. Ohne den kulturellen und politischen Hintergrund verkommt der Roman zu einer mehrheitlich kitschigen Erzählung echter und ersehnter romantischer Erlebnisse de Zoets. 

Fazit: 

Historische Romane sind für mich dann wertvoll und lesenswert, wenn sie die Geschichte des Landes und der Personen, welche die Handlung prägen, in einem aufklärerischen, nicht jedoch schulmeisterlichen Sinn, erlebbar machen. Ich erwarte, dass der Roman den Hintergrund der Handlung soweit integriert, dass man als Leser versteht, wovon die handelnden Personen geprägt und von welchen Motiven und Antrieben sie geleitet sind. Am Beispiel des vorliegenden Romans wären das: Einbettung der holländischen Handelsniederlassung in Japan in die Gesamtgeschichte der europäischen Kolonialisierung Asiens; Rolle der Niederlande in der Kolonialisierung Asiens; Gründe für die Abschottungspolitik Japans; Zusammenhang zwischen den Napoleonischen Kriegen in Europa und der Kolonialisierung Asiens, etc.; das alles kommt in Mitchells Roman viel zu kurz.

Per Saldo ist der Roman ein Motiv, den «Shogun» von James Michener nochmals zu lesen. Nach meiner Erinnerung ist der «Shogun» eine brauchbare Einführung in die ersten Begegnungen zwischen Ost und West in Asien; er behandelt die ‚japanische Seele‘ eingehend und behutsam, und er schildert die geopolitischen Gegebenheiten der Epoche, insbesondere die Kolonialpolitik Europas und – als Kontrastprogramm – die Abschottungsmanie Japans in hinreichender Tiefe, sodass der Leser sich ein gutes Bild der Epoche machen kann. 

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