Zwei Herren am Strand

Zwei Herren am Strand
Michael Köhlmeier, 2016-15

Das ist wieder einmal ein deutschsprachiger Roman, den man kaum weglegen kann, bevor das Ende erreicht ist: glänzend geschrieben, hervorragender Plot und spannend bis (fast) zur letzten Seite. 

Der Roman kommt daher wie eine märchenhafte Geschichte von Churchill und Chaplin. Beide sind depressiv veranlagt, speziell in Lebenssituationen, nachdem sie ein grosses Werk vollendet haben. Sie begegnen sich zufällig 1927, an einer der typischen US-Westküstenpartys, natürlich in einer Strandvilla, mit viel Prominenz aus der Filmindustrie, der Presse und generell der High Society. Sie kennen sich nicht, langweilen sich jeder vor sich hin, aber in der Nähe voneinander, und schliesslich macht Churchill Chaplin den Vorschlag, gemeinsam einen Strandspaziergang zu machen. Auf dem Spaziergang unterhalten sie sich über die Technik des Selbstmords und über ihre jeweiligen Depressionsphasen. Sie versprechen sich gegenseitig, niemals mit jemand anders über den Inhalt ihrer ‹walk-talks› zu reden, und zusätzlich, dass, wenn einer von ihnen in eine Depression gerät (gemäss Churchill vom ‚Schwarzen Hund‘ angebellt wird) und Hilfe braucht und den anderen um Hilfe bittet, dieser umgehend alles liegen lässt und dem anderen ‚vor Ort‘ zu Hilfe kommt. Daraus entwickelt sich eine seltsame, aber intime Freundschaft, seltsam, weil sie sich thematisch ausschliesslich auf die Themen Depression, Selbstmord und möglichst kreative neue Arten, sich das Leben zu nehmen, konzentriert. Standesunterschiede, Politik, Weltanschauung oder Kultur werden vollständig ausgeschlossen. 

Es gelingt dem Autor ausgezeichnet, dieses pathologische Element der Beziehung in die aktuelle Zeitgeschichte des 20. Jahrhunderts und die Rollen Churchills beziehungsweise in die Geschichte des künstlerischen Schaffens Chaplins einzubetten. Dabei spielt der Einbezug der politischen Einstellung Churchills und dessen durchaus auch zynische Weltanschauung, sowie der zeitgeistigen Kultur und insbesondere der kulturell-philosophischen Stellung des Clowns und der Auffassung der Rolle des Clowns eine tragende Rolle. Darin eingebettet sind hochinteressante Ausführungen zu Chaplins kreativer Leistung mit der Erfindung des Tramps. 

Der Roman ist eine kulturell-historische Fundgrube für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts. Wer das in der Schule verpasst hat, erhält im Roman zahlreiche ‚Teaser‘, dies nachzuholen. Wer meint, darüber schon genug zu wissen, wird mit zahlreichen Einblicken in das Seelenleben Churchills oder einzelner Nazi-Grössen oder mit vielen Details und Anekdoten über die Kulturgeschichte des Films, insbesondere des Übergangs vom Stumm- zum Tonfilm und die Art und Weise, wie Chaplin diesen Übergang, der für ihn ein Kulturschock war, bewältigt hat, immer noch reich belohnt. Wer meint, darüber schon alles zu wissen, erhält eine währschafte Lektion in Bescheidenheit – oder er bleibt so blöd und eingebildet, wie er schon immer war (die Begrenzung auf das männliche ‚Gender‘ ist hier bewusst gewählt). 

Der Autor, Michael Köhlmeier, reklamiert die Authentizität seiner Geschichte mit dem Zugang zu den Archiven seines Vaters und des ‚privaten‘ Privatsekretärs Churchills, William Knott, die miteinander (aus im Roman nicht enthüllten Gründen) sogar zu Kriegszeiten rege korrespondiert haben sollen. Spätestens die Tatsache, dass noch während der Zeit der Luftschlacht um England der private Privatsekretär Churchills einem österreichischen Nobody Informationen über Vorgänge in Downing Street 10, auf Churchills Landsitz oder in dessen Kriegsbunker mitteilt, macht sogar geschichtsunkundigen Leserinnen und Lesern klar, dass die Geschichte der Beziehung Churchills mit Chaplin erfunden ist. Die Rahmenhandlung ist jedoch geschichtlich korrekt und glänzend recherchiert.

Der Roman ist von der ersten bis zur fast letzten Seite ein Genuss. Am Schluss jedoch überzieht Köhlmeier, der Ich-Erzähler des Romans, indem er – von Beruf selbst ein Clown – die Geschichte als Dialog zwischen Vater (als Puppe, ja, als Faksimile-Puppe!) und Sohn auf die Bühne bringt. Das müsste nun nicht sein. Dem Gesamteindruck tut das jedoch keinen Abbruch. 

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