Weit über das Land

Weit über das Land
Peter Stamm, 2016-12

Dieser Roman macht mich irre. Man kann ihn in zwei verschiedenen Versionen sehen.

Version 1:

Stamm erzählt in bemühender Langsamkeit und Ausführlichkeit, wie ein erwachsener Mann eines Abends seine Familie verlässt, einfach so, ohne Abschied, ohne einen Koffer gepackt zu haben, als er mit seiner Frau auf der Gartenbank sass, um bei einem Glas Wein eine Rückschau auf die Ferien am Meer zu halten. Die Familie: Mutter Astrid, Vater Thomas, Ella die ältere und Konrad, beide schulpflichtig, guter Mittelstand, wohnhaft irgendwo in der Ostschweiz, im eigenen, von den Eltern übernommenen und ausgebauten Einfamilienhaus, Thomas ist Buchhalter und Berater in einem mittelständigen lokalen Kleinunternehmen, Astrid ist Vollzeitmutter. 

Wegen eines häuslichen Problems verlässt Astrid die Gartenbank und den gemeinsamen Schlummertrunk, Thomas steht auf und geht durch die quietschende Gartentür, die er sorgfältig anhebt, um jedes Geräusch zu vermeiden, auf die Strasse. Am nächsten Morgen ist er einfach nicht mehr da. 

Astrid ist verloren. Will aber nicht, dass das Verschwinden ihres Mannes zum Dorfgespräch wird. Bei seinem Arbeitgeber meldet sie ihn krank, gegenüber den Kindern erfindet sie fadenscheinige Gründe, um ihnen zu erklären, warum ihr Vater vorübergehend nicht bei der Familie ist. Einige Tage geht das einigermassen gut, schlussendlich meldet sie bei der Polizei ihren Mann als vermisst. Der sympathische junge Polizist, der sich um den Fall kümmert, setzt alle Mittel der lokalen Polizei ein, um den vermissten Mann zu finden. Man findet – über Kreditkartenbezüge – Spuren im Muothatal, aber eine Suche mit einem Suchhund muss nach 20km wegen Erschöpfung des Hundes abgebrochen werden. Der örtliche Polizeichef verweigert den Einsatz weiterer Ressourcen in den Fall, der nicht in das Aufgabenspektrum der Polizei gehört. Der Fall wird abgeschlossen. Die ziellose Wanderung von Thomas geht weiter; in einem karstigen Gebiet zwischen den Kantonen Glarus und Graubünden stürzt Thomas in eine Felsspalte etwa vier Meter tief hinunter, findet auf einem kleinen Felsvorsprung genügend Halt, um dort zu übernachten, kann am nächsten Tag wieder hochklettern und seine Verletzungen in einer bereits für den Winter eingerichteten Alphütte pflegen, und dann zielt er weiter. 

An diesem Punkt trennen sich die beiden Versionen der Geschichte.

Version 1 – Fortsetzung:

Thomas weiss natürlich nichts von dem, wie Astrid mit seinem Verschwinden umgeht. Er beginnt ein Vagabundenleben, lebt von Gelegenheitsarbeiten, bummelt auf diese Weise durch die meisten Länder des europäischen Südens. Er denkt gelegentlich an seine Familie, hat aber weder Schuldgefühle noch Gewissensbisse. Es wird auf der ganzen Odyssee auch nie klar, was seine Motive für das Verschwinden, für den radikalen Wechsel von einem behäbigen und gesicherten und weitgehend ereignislosen Mittelstandsleben in ein ebenso ereignisloses Vagabundenleben sein könnten. Der Wechsel ist ziellos und spielt sich auch ohne das Bestreben, irgendwelche Ziele zu erreichen, ab. Jede Andeutung auf einen eventuell denkbaren Versuch einer Selbstverwirklichung wird von Stamm vermieden. So erreicht Thomas sein AHV-Alter.

Version 2:

Sie beginnt eigentlich erst etwa 2 Wochen nach dem Verschwinden von Thomas. Die Kinder wissen, dass ihr Vater weggegangen ist und wohl kaum je wieder zurückkommt. Sie werden mit dieser Tatsache mehr oder weniger und oberflächlich recht gut fertig. Der Alltag geht munter seinen gewohnten Rhythmus. Die Tatsache des Verschwindens ist im Dorf und in der Verwandtschaft bekannt. Astrid ist erfolgreich bemüht, ihr Leben ohne Thomas allein zu bewältigen. Der Arbeitgeber ist im Bild und bereit, mindestens bis zum Ablauf der Kündigungsfrist seine finanziellen Leistungen zu erbringen. 

Astrid beginnt ein Doppelleben. Im öffentlichen lebt sie die verlassene Frau, die mit ihren Lebensumständen recht gut zurecht kommt. Die Kinder machen gute Schulabschlüsse, Ella absolviert das Gymnasium und ein Romanistikstudium. Aus einem Praktikum in Lyon kommt sie ohne Mann, aber mit Kind zurück. Astrid hat jetzt genügen Freizeit, um Ella mit Kinderhüten so zu unterstützen, dass diese ihre Berufspflichten unbelastet wahrnehmen kann.

Im privaten Leben bildet sie sich einige Wochen nach dem Verschwinden ein, dass Thomas tot in den Bergen aufgefunden wird. Er wird bestattet. Sie lebt zwar öffentlich als Witwe weiter, privat jedoch ist Thomas weiterhin bei ihr, wie wenn er nie verschwunden wäre. Sie träumt davon, wie sie und Thomas in ihrer Jugend sich getroffen und verliebt haben, wie ihre Familie wuchs und wie sie ihre Kinder erzogen und in allen Lebensbereichen unterstützt haben. Sie lebt weiter mit Thomas und ist auch felsenfest davon überzeugt, dass er eines Tages wiederkommt.

Version 1+2 (Fusion):

Eines Nachmittags – Astrid ist gerade beim Abwasch des Mittagsgeschirrs – hört sie das quietschende Gartentor, das sie schon immer mit Thomas assoziiert hat, hört sie die Schritte von Thomas, wie er durch den Garten geht, einige Pausen einlegt. Sie erlebt einen «kurzen Augenblick des Glücks», als «die Türe sich öffnete und sie ihn sah als verschwommene Silhouette im hellen Mittagslicht».

Soweit die Handlung des Romans. Aus meiner Sicht unterscheiden sich die beiden Versionen nur marginal. Meine Würdigung ist:

Version 1 ist für mich eine atemberaubend langweilige und langweilig erzählte Geschichte des Verschwindens eines Mannes und seiner Rückkehr nach über 20 Jahren. Die Schilderung der Wanderung von Thomas vom Thurgau bis in die Gotthardgegend und von seinen Absteigen ist so überdehnt und mit unnötigen Detailschilderungen vollgepackt, dass man grösste Mühe hat, weiter zu lesen. Das einzige Motiv ist die Frage: «Wie geht die Geschichte aus?» Aber die Blumen, die mit ansteigender Meereshöhe immer wieder anders werden, oder die Passhöhen, auf denen es immer windig und kalt ist, sind sehr bemühend. 

In Version 1 fehlt jeglicher Hinweis auf die Motive, die Thomas oder Astrid zu ihrem Handeln antreiben. Der Roman ist langweilig, es fehlt ihm Spannung, Tempo und Rhythmus. Der ständige Wechsel zwischen der Geschichte aus der Perspektive von Astrid und Thomas ist anfänglich vielleicht gelungen, wird aber sehr schnell bemühend. Die Geschichte ist literarisch und menschlich uninteressant und von der Kritik ganz gewiss überdreht und überlobt. 

Version 2 beginnt erst mit dem Auseinanderlaufen der Handlung des Romans (Thomas tingelt weiter durch Europa, Astrid zieht sich in ihre eingebildete romantische Happy End-Träumerei zurück und führt ein Doppelleben zwischen Wirklichkeit sind Traum). Der Teil Astrid gibt einen Einblick in die Psyche einer Frau, die noch nie im Leben gewusst hat, wer sie eigentlich sein will. Der Verlust ihres Mannes wäre für sie eigentlich eine Chance, endlich eine Identität zu finden und in ihrer Familie und in der Gesellschaft eine mit ihrer Identität übereinstimmende oder dazu passende neue Rolle zu übernehmen. Sie verpasst die Chance, weil sie nie im Traum daran denkt, dass dies ihre Aufgabe und Chance sein könnte, sondern sie bleibt auf ihren Traum eines Lebens mit Thomas fixiert. Das angedeutete Happy End von Version 2 – Thomas steht eines Tages als verschwommene Silhouette unter der Eingangstür – hinterlässt einen ratlos. Das ist aufgesetzt und überlässt alles Weitere den Leserinnen und Lesern (also Antworten auf Fragen wie: Warum? Wie soll das jetzt weitergehen? Wann erwacht Astrid aus ihrem Traum? Wie überlebt sie das? Was will Thomas mit seiner Rückkehr überhaupt erreichen oder sagen; wie stellt er sich das weitere Leben mit seiner Familie vor?). Damit macht es Stamm sich meines Erachtens schlicht und einfach zu leicht. Dieser offene Ausgang ist durch die Vorgeschichte nicht plausibel.

Denn auch Version 2 leidet unter dem Fehlen von Motiven oder Beweggründen. Leserinnen und Leser werden ratlos allein gelassen: Warum haben Astrid und Thomas überhaupt geheiratet? Wie konnte Thomas seine Familie verlassen – einfach so? Ohne je daran gedacht zu haben, ohne Vorbereitung?

In vielen Dingen fehlt ausserdem der Praxisbezug. Jedenfalls sind die Erlebnisse von Thomas sehr blass beschrieben; das Leben in einer Beiz in der Innerschweiz kann nicht so blutleer sein, wie Stamm es schildert. Mir scheint, dass Peter Stamm eine solche ‚fugue‘ noch nie selbst durchgeführt oder erlebt hat.

Insgesamt einfach schwach!

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