
Das ist mein erster ‚Seethaler’, und es wird nicht mein letzter sein.
Seethaler erzählt die Geschichte des Landbuben Franz, der in den späten 1930-er Jahren vom Salzkammergut, wo er eine von seiner alleinerziehenden Mutter umhütete und sorgenfreie Jugend erlebt, dann als Lehrling zu Otto Trsnjek, einem alten Bekannten (Freund?) seiner Mutter nach Wien verpflanzt wird. Seethalers Sprachfluss ist anfänglich abschreckend, langsam und bedächtig, aber so packend, sprachlich einfallsreich und mit ironisch-beissendem Wiener Humor gespickt, dass er rasch vertraut und sehr geniessbar wird.
Trsnjek führt im Wiener Zentrum einen kleinen ‚Trafik’, d.h. einen Zeitungskiosk, Tabakwaren- und Gemischtwarenladen. Er hat im ersten Weltkrieg ein Bein verloren und geht an Krücken. Er hat sehr klare, bestimmte Prinzipien und Einstellungen, die zunehmend mit dem in Österreich aufkommenden Nazismus in Konflikt geraten.
Franz kommt mit einem älteren Herrn, der Kunde bei Trsnjekt ist, in Kontakt, der sich als der berühmte Prof. Sigmund Freud entpuppt. Zwischen Freud und Franz entwickelt sich – trotz des völlig unterschiedlichen familiären und intellektuellen Hintergrunds – eine Freundschaft, in der sie hochinteressante Gespräche führen, die für beide äusserst lehrreich sind. Der gesunde Menschenverstand, den Franz einbringt, führt Freud zu neuen Einsichten über die Natur der Menschen; umgekehrt eröffnet er Franz neue Perspektiven auf die Welt, in der er lebt. Die Art und Weise, wie Seethaler Freud’sche Theorien in leicht verständlicher Sprache einbringt, beeindruckt sehr.
Die Geschichte verwickelt sich immer mehr mit dem politischen Geschehen der späten 1930-er Jahre (Anschluss Österreichs an Hitlerdeutschland, grassierender Antisemitismus, der selbstverständlich auch Menschen wie den Nicht-Juden Trsnjek, der mit Juden Umgang pflegt, einschliesst).
Die Geschichte endet sehr traurig, der Plot soll aber hier nicht verraten werden. Es lohnt sich, das Buch selber und zu Ende zu lesen.
Bemerkenswert ist die distanzierte Art und Weise, in der Seethaler schreibt. Die Geschichte der Verwicklungen des Landbuben Franz mit Otto Trnsjek, einem äusserst zartbesaiteten aber hartschaligen, weltoffenen, belesenen und gesellschaftlich höchst interessierten Wiener Kleinkrämer, mit Freud, mit rassistischen Wiener Kleinbürgern, die jederzeit für ein ‚Pogrom im Quartier’ zu haben sind, mit der grossen Politik, welche die Zeitumstände und Lebensbedingungen in Wien im Grossen und im Kleinen dominiert, kurz: die Geschichte einer grässlichen Epoche des 20. Jahrhunderts wird von Seethaler wie von einem völlig unbeteiligten Reporter ausgebreitet, ohne Qualifikationen oder Parteinahme, ohne Anteilnahme, ohne eigenes Engagement, wie wenn es ihn nichts anginge. Das macht den ‚Roman’, der eigentlich eher wie eine Biografie daherkommt, zu einem äusserst wertvollen und eindrücklichen Zeugnis einer zeitgeschichtlich erschreckenden Entwicklungsphase der Gesellschaft Europas im 20. Jahrhundert.
PS:
Das Buch ist nichts für Schnellleser oder Lese-Häppchen-Jäger.