Die schwarze Spinne

Die schwarze Spinne
Jeremias Gotthelf, 2015-18

(Ausgabe Suhrkamp Basisbibliothek; mit Text und Kommentar)

Hurra – das ist entschleunigte Literatur; Literatur für Analphabeten, sozusagen. Solche Texte sollten nicht gelesen, sondern vorgelesen werden, für Analphabeten, für Zuhörerinnen und Zuhörer, die unendlich viel Zeit haben, am besten bei Kerzenlicht oder im Geflacker einer Fischöllampe, der Vorleser oben am Tisch, auf einer Eckbank, die den Tisch auf drei Seiten umgibt, die Zuhörer, andächtig gefesselt an den Lippen des Vorlesers hängend, eng gedrängt auf der Bank, der Raum getäfert, mit tief hängender Decke, der Hund schlafend beim Kachelofen.

Das ist nicht etwa ironisch gemeint, sondern es spiegelt die Stimmung, welche die Novelle «Die schwarze Spinne» suggeriert. In der Novelle selbst wird nicht vorgelesen, sondern erzählt. Die Rahmenhandlung ist ein Taufessen auf einem Bauernhof im Emmental, üppig, deftig, rustikal; während des Essens wird der Grossvater, natürlich oben am Tisch sitzend, die Geschichte des Pfostens aus altem und fast schwarzdunklem Holz, der im neu gebauten Bauernhaus aus dem Rahmen fällt, zu erzählen. Das führt dann zur Binnenhandlung, eben zur Sage der schwarzen Spinne. A propos ‚entschleunigt‘: die Rahmenhandlung umfasst rund 20 Seiten der Novelle, die Binnenhandlung rund 80; d.h. dass die Taufgemeinde Zeit hat, sich zwischen zwei Gängen eine achzigseitige Geschichte anzuhören.

Die Sage wird nicht als Sage erzählt, sondern als wahre Geschichte. Erst am Schluss, zurück in der Rahmenhandlung, bemerkt ein Zuhörer: «Es ist nur schade, dass man nicht weiss, was an solchen Dingen wahr ist. Alles kann man kaum glauben, und etwas muss an der Sache sein, sonst wäre das alte Holz nicht da.»

Es ist die Geschichte eines Pakts mit dem Teufel, die natürlich nicht gut ausgehen kann, sondern mit Feuer und Schwefel, Pest und Cholera ein Tal auszurotten droht. Ausrotten würde, wenn nicht ein ‚guter Mensch‘ mit grosser Selbstaufopferung die Rettung bringen würde. Und damit die ‚Moral von der Geschicht‘ wirklich ankommt, passiert das gleich zweimal, im Abstand von ein paar 100 Jahren.

Bei Gotthelf, er ist ja schliesslich auch Pfarrer, hat alles seine Ordnung, seinen Platz. Das ist auch im Emmental so, d.h. es wäre so, wenn das Böse nicht von aussen eindringen würde. Das Böse sind die Ordensritter oder die ‚Lindauerin‘, jedenfalls nicht die Einheimischen, die sich allerdings vom importierten Bösen verführen lassen, zu Hochmut, Eitelkeit, Gotteslästerung, Geltungssucht, Unterdrückung und Ausbeutung der Bediensteten, oder zu Faulheit. Den Schlüssel dazu liefert eine kurze Passage über das ‚untere Haus‘, das nach dem Neubau eines herrschaftlich-protzigen neuen Sitzes der Familie den Knechten und Mägden überlassen wurde:

«Daher war drunten (Anmerkung BB: gemeint ist eben das ‚untere Haus‘) keine Ordnung und bald keine Gottesfurcht, und wo kein Meister ist, geht es so durchweg. Wenn kein Meister oben am Tisch sitzt, kein Meister im Haus die Ohren spitzt, kein Meister drinnen und draussen.

So ging es zu im Hause drunten, und das sämtliche Gesinde glich bald einer Rudel Katzen, wenn sie am wüstesten tun. Von Beten wusste man nichts mehr, hatte n die Zügel hält, so meint sich bald der der Grösste, welcher am wüstesten tut, und der der Beste, welcher die ruchlosesten Reden führt. darum weder vor Gottes Willen noch vor seinen Gaben Respekt.»

Gotthelf ist aus der Zeit gefallen, jedenfalls mit seinem pietistisch-frömmelnden Zeige- und Drohfinger. Er selbst sieht sich ja auch in erster Linie als Aufklärer und Warner, als Mahner und Erzieher; in einem Brief schreibt er über sich: «Schriftsteller wurde ich, wie es fast nur in Republiken möglich ist: unwillkürlich, durch den Drang unserer Zustände, durch den Wunsch, unserem Volk, dem man von allen Seiten Sand in die Augen streute, treu die Wahrheit vorzuhalten, zu versuchen, ob es Lust zu derber, gesunder Kost habe, und dadurch der ungesunden politischen und religiösen Überfütterung zu wehren.» (Seite 113)

Was allerdings immer noch in die heutige Zeit passt, vielleicht mehr denn je, ist sein unerschütterlicher Glaube daran, dass der Mensch Strukturen und Ordnung braucht, neudeutsch sogar ‚Werte‘. Die Welt, die in der schwarzen Spinne zerfällt, zerfällt auch heute. Gotthelfs Remedur, Gottesfurcht, Bescheidenheit, Anstand, Mitgefühl, Respekt vor der bestehenden Ordnung, ist bei einem Transfer vom religiös-kirchlichen Kontext in ein säkulares Wertesystem weiterhin gültig.

Peter von Matt meint, Dürrenmatts «Besuch der alten Dame» sei von «Die schwarze Spinne» inspiriert. Ich habe da meine Zweifel. Natürlich leben beide Geschichten von einem Pakt mit dem Teufel. Aber da ist eigentlich die Schnittmenge bereits zu Ende, und mich dünkt, dass die stark religiös eingefärbte Novelle Gotthelfs, sich in allen anderen Aspekten meilenweit von der säkularen Geschichte Dürrenmatts entfernt. Schon die Gleichstellung von Claire Zachanassian mit dem Teufel erzeugt Hühnerhaut; bei Dürrenmatt fehlt alles Apokalyptische, das «Die schwarze Spinne» prägt. «Der Besuch der alten Dame» basiert nicht auf Moral und kommt ganz und gar ohne Gott aus; der Verstoss gegen die Moral führt nicht in die Katastrophe – ausser für den ermordeten Ill. Bei Dürrenmatt dominiert die ‚Banalität des Bösen‘.

Ausserdem: in «Die schwarze Spinne» steht der Pakt mit dem Teufel am Anfang der Geschichte, und der Bruch des Pakts ist der Beginn des Unheils; bei Dürrenmatt dient der Pakt nicht dem Abwenden von Unheil und Katastrophe, sondern schlicht und einfach der persönlichen Rache (für Claire Zachanassian) und dem Gewinn (für die Güllener). Bei Gotthelf steht im Vordergrund, welche Folgen der Bruch des Pakts für die Bauern des Emmentals hat, und mit welchem Trick sie die schwarze Spinne, die Unheil über sie bringt, in ein Bohrloch in einem alten Stück Holz einsperren und damit auf Dauer unschädlich machen können. Bei Dürrenmatt wird der Pakt mit dem Teufel Zachanassian eingehalten, er markiert die schlimmstmögliche Wendung des Dramas und steht folgerichtig an dessen Ende. Allfällige Folgen für die verbrecherischen Güllener sind für Dürrenmatt kein Thema.

Ich meine nach wie vor, dass Mark Twains «Der Mensch, der Hadleyburg verderbte» sich viel besser als Vorbild für die ‚alte Dame‘ eignet.

PS:

So nebenbei illustriert «Die schwarze Spinne» (erschienen 1842), wie bigott, abergläubisch und obrigkeitshörig die damalige Bevölkerung war – und wie erzchauvinistisch und konservativ Gotthelf selber; Fremdenfeindlichkeit und Ablehnung alles Fremden sind keine Erfindung der Gegenwart.

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