
Auslöser meiner Auseinandersetzung mit Marquard war ein Hinweis meines Freunde Hansjörg Anderegg auf die Marquard’sche Wortschöpfung ‚Inkompetenzkompensationskompetenz’. Ich fand das Wort so irritierend, dass ich zunächst via Internet herausfand, was er damit meinte:
- Ursprünglich war die Philosophie zuständig (kompetent) dafür, den Menschen zu sagen, was ein gutes Leben ist. Diese Rolle wurde ihr von der Religion weggenommen.
- Dann erklärte sie sich für kompetent, der Menschheit die Welt zu erklären. Diese Kompetenz verlor sie an die Naturwissenschaften.
- Dann ‚nahm‘ sie sich die Kompetenz, zu erklären, wie eine gut organisierte Gesellschaft funktionieren soll.
- Nachdem sie auch diese Kompetenz – an die Politik – verloren hat, bleibt ihr nur noch, ihre eigene Inkompetenz zu kaschieren, und darin ist sie kompetent.
Diese philosophische Logik animierte mich, Marquard etwas näher kennen zu lernen; und das Werk, das mich in den Regalen von Orell Füssli am meisten anlachte, war eben die Essay-Sammlung «Zukunft braucht Herkunft».
Die Sammlung enthält ein gescheites Vorwort und ein sehr lesenswertes Nachwort mit einer schönen Gesamtschau auf Marquards philosophisches Denken sowie als das eigentliche ‚Fleisch am Knochen‘ 17 Essays von Marquard, die vorwiegend in den 1980-er Jahren entstanden oder publiziert worden sind; die Essays sind aber so aktuell und relevant, wie wenn sie heute geschrieben worden wären.
Viele der Essays sind Transkripte von Reden (oder Vorlesungen?) und bestätigen die alte Weisheit: Eine Rede ist keine Schreibe. Sie sind schwierig zu lesen, weil Marquards Stil sich dadurch auszeichnet, dass er offenbar beim Reden – vielleicht auch beim Schreiben – eigentlich laut denkt; häufig produziert er fürchterliche Bandwurmsätze, die vollgepackt mit Nebensätzen, Gedankenstrich-Einschüben, und das Ganze noch vielfach verschachtelt und hierarchisch abgestuft sind.
Wenn man sich eingelesen hat und sich für die Lektüre Zeit nimmt – flüchtig lesen oder Überfliegen geht gar nicht – gewöhnt man sich an den Stil und kommt leichter durch das Dickicht. Dann wird die Lektüre zum Genuss, denn Marquards Gedanken sind ausserordentlich fesselnd, unkonventionell, mit Humor und gelegentlich Sarkasmus und (Selbst-)Ironie gespickt.
Die Essays illustrieren und belegen Marquards originelles und unabhängiges Anti-Mainstream-Denken, das wahrscheinlich die Erklärung dafür ist, dass er beispielsweise im Vergleich zur Frankfurter Schule relativ unbekannt blieb, es jedenfalls nicht schaffte (vielleicht wollte er auch einfach nicht…), sich in Feuilletons oder Talkshows breit zu machen.
Einer Essay-Sammlung kann man nicht den Vorwurf machen, dass gewisse Wiederholungen und Redundanzen vorkommen. Marquard hat bestimmte Lieblingsthemen oder -thesen, die in unterschiedlichen Kontexten in mehreren Essays angesprochen werden. Es empfiehlt sich also, die Sammlung nicht in einem Zug zu lesen; gewisse Abstände zwischen den einzelnen Essays lassen die Wiederholungen verblassen und das zugrundeliegende Thema jedes Mal wieder in neuem Licht erscheinen.
Marquards in den Essays behandelte Kernthemen sind:
- Kompensationstheorie: Im Essay «Philosophie des Stattdessen» (der sich ausführlich mit der Kompensationstheorie befasst) wagt er sich in die Nähe der Naturwissenschaften, indem er mit Erhaltungssätzen, die den physikalischen Erhaltungssätzen nachempfunden sind, gewisse kulturelle Grundsituationen erklärt. Der tragende Gedanke ist dabei immer, dass «die Menge an x bleibt … dadurch konstant, dass Minderungen an einer Stelle durch Mehrungen an anderer Stelle ausgeglichen werden». Die ‚neuen‘ vier Erhaltungssätze, die er dann formuliert, klingen schon von ihren Kurzformen her ‚intriguing – to put it mildly‘, sind aber sehr genussvoll und intellektuell anregend zu lesen:
- Die Menge der Konfusion bleibt konstant.
- Die Gesamtheit des moralischen Empörungsaufwands bleibt konstant.
- Die Menge der Naivität bleibt konstant.
- Der Negativitätsbedarf bleibt konstant. Damit meint er, dass – vor allem bei Denkrichtungen, die von einer absoluten Vorstellung des idealen Zustands, in den sich die Welt entwickeln soll, ausgehen – die Menge des Negativen nur insofern erhalten lässt, als damit eine ‚gleichwertige‘ Verdrängung des Positiven verbunden sein muss (Positivitätsverdrängung).
- Mein eigenes Beispiel einer Anwendung der Erhaltungssätze zur Stützung der Kompensationstheorie ist: die Summe aller Laster bleibt konstant. Wenn ein Mensch ein bestimmtes Laster verringert, muss kompensierend ein anderes Laster so zunehmen, dass die Summe der Laster konstant bleibt.
- Vita brevis – die Ursache für die Endlichkeit des Menschen: weil der Mensch endlich ist, kann er nicht vollkommen sein; er hat sich in seiner begrenzten kurzen Lebenszeit darauf einzustellen, dass die Suche nach dem perfekten Leben oder der perfekten Gesellschaft aussichtslos bleiben muss; das Leben ist zu kurz, um wertvolle Lebenszeit mit der Suche nach Perfektionierung zu vergeuden; die zweitbeste Lösung ist gut genug; die Wirklichkeit ist nicht deswegen hundselend und total des Teufels, weil es in der Fantasie Vorstellungen einer besseren Welt gibt. Hier greift Marquards Bezug auf Hegel: «Die Sollensatrophie bewirkt Seinsvermiesung».
Da sehe ich mich dank meiner Maxime seelenverwandt: «Das Bessere ist der Feind des Guten, aber nur dann, wenn das Gute nicht gut genug ist.»
Marquards Kritik an der Sollensatrophie beruht auch ganz wesentlich auf dem hohen Stellenwert, den bei ihm die Freiheit einnimmt (auch die Freiheit, Fehler machen zu dürfen), und auf seiner Grundüberzeugung, dass es im Bereich der Philosophie – oder der Hermeneutik ganz allgemein – nie nur eine einzig richtige Erklärung oder Deutung geben kann. Das zieht sich wie ein roter Faden durch die ganze Essay-Sammlung.
- Geschichtsphilosophie: Er versteht und bekämpft unter Geschichtsphilosophie diejenige philosophische Weltsicht, die postuliert, dass die ‚Welt‘, oder mindestens die menschliche Gesellschaft, auf einen Zustand der Vollkommenheit zustrebt; er sieht darin eine selbstüberhebliche, anmassende Haltung, die letztlich auf Tyrannei, auf Ausschluss aller anderen Sichten, auf eine fundamentale Ablehnung des ‚sowohl als auch‘ hinaus läuft. Er argumentiert dagegen auch mit dem ‚vita brevis‘-Gedanken und seinem Plädoyer für das Zweit-Beste.
Marquard stellt das in der anvisierten Richtung der Geschichtsphilosophie betonte Beharren auf das Sollen in Richtung einer vollkommenen Welt in die Familie aller anderen Heilslehren; zu denen zählt er nicht nur die klassisch-religiösen, sondern auch die immer noch grassierenden säkularen Heilslehren: in erster Linie nennt er Kommunismus, Sozialismus, Egalitarismus, Gerechtigkeitsfetischismus (meine Wortschöpfung, nicht Marquards).
Marquard geht – jedenfalls in den Essays der vorliegenden Sammlung – nicht auf den Trost der religiösen Heilslehren ein, dass ein unvollkommenes, schmerzvolles Leben für diejenigen, die gut im Sinne der Religion gelebt haben, im Jenseits durch den Himmel kompensiert werden kann. Ich vermute jedoch, dass er diesen Aspekt nicht vergessen hat, sondern schlicht und einfach einer philosophischen Auseinandersetzung nicht für würdig findet.
- Mythen: Marquard plädiert für eine Hochachtung von Mythen, da der Mensch Mythen braucht. Dabei kommt es nicht darauf an, ob Mythen ‚wahr‘ sind oder nicht. Es genügt, dass sie da sind, Menschen Halt und Orientierung geben. Mythen sind auch eng mit dem Prinzip ‚Zukunft braucht Herkunft‘ verbunden. Siehe dazu den Essay «Lob des Polytheismus».
- Zukunft braucht Herkunft: Der Mensch und das ‚Mensch sein‘ setzt Herkunft als Bezugspunkt und Identitätsbestandteil voraus. Eine Zukunft ohne Herkunft ist weder denkbar noch wünschbar. Siehe dazu den Essay «Zukunft braucht Herkunft».
- Im Essay «Abschied vom Prinzipiellen» (Seite 23) beschäftig sich Marquard auch mit Veränderungen der Lebenssituation: zentral ist für Marquard die Herkunft («Zukunft braucht Herkunft»); sie bestimmt «die Wahl, die ich bin; bei jeglicher Veränderung knüpft der Mensch an das an, was geschichtlich schon da ist»; das, was schon da ist, überwiegt, und zwar auf Dauer, denn unser kurzes Leben reicht gar nicht dazu aus, immer wieder zu begründen, warum etwa so ist, wie es ist – es übersteigt ‚unsere Begründungskapazität‘. Deshalb postuliert Marquard: wenn schon etwas zu begründen ist, dann nicht die ‚Nicht-Wahl‘ von Veränderung (also die Bevorzugung des Ist-Zustands), sondern die Wahl, die Veränderung; «die Beweislast hat der Veränderer».
Deshalb, so Marquard «tendiert die Skepsis zum Konservativen». Marquard vergleicht das mit chirurgischen Operationen, denen stets auch eine ‚konservative‘ Alternative (also ein Verzicht auf den chirurgischen Eingriff) gegenüber steht. Das – so Marquard – «übersehen die, die den Begriff des Konservativen perhorreszieren. Analog lässt sich nicht alles ändern und darum nicht jegliches Nichtändern unter Anklage stellen.»
Marquard kann auch ‚lustig‘: in der abschliessenden ‚Fundamentalkantate‘ (die er zur Feier des 10-jährigen Bestehens des von ihm gegründeten Collegium Philosophicum Münster schrieb), findet sich die schöne Strophe (auf die Melodie des Mackie-Messer-Songs):
«… die Entzweiung ist Versöhnung,
Illusion, dass man sich quält;
Denn dem Menschen fehlt fast gar nichts,
nur die Einsicht, dass nichts fehlt.»
Fazit: Für mich ist die Entdeckung Marquards eine grosse Bereicherung. Die Essay-Sammlung kommt auf meinen Nachttisch; sie eignet sich hervorragend als sporadische und häppchenweise Lektüre einzelner Essays, bleibt in jeder Lebenslage anregend und Reflexions-motivierend. Leitend dabei ist Marquards Definition von Vernunft: der Verzicht auf die Anstrengung, dumm zu bleiben.
Im Gegensatz dazu erscheint mir die Lektüre von philosophischen Text- oder Lehrbüchern Marquards doch etwas schwieriger und mühsamer: jedenfalls fällt mir schon auf den ersten Seiten von Marquards «Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie» auf, dass eine streng wissenschaftliche Thema-Behandlung durch die permanente Auseinandersetzung mit Gegenpositionen viel steriler und ermüdender ist als der essayistische Zugang.
Eine Summe von Essays ergibt keine kohärente Philosophie. Diese findet sich im Nachwort von Franz Josef Wetz (*1958, Dozent für Philosophie und Ethik an der Pädagogischen Hochschule Schwäbisch Gmünd). Seine Darstellung enthält auch eine Würdigung der insbesondere von Habermas vertretenen Gegenpositionen zu Marquard. Sie er erscheint mir als Laien nicht zweifelsfrei objektiv, für ‚Philosophen unter sich‘ wohl durchaus ein Normalfall, ist aber informativ und lesenswert.
PS:
Zur Illustration von Marquards sprachschöpferischer Kreativität noch einige Beispiele für Definitionen oder Sätze, die man in einem philosophischen Werk normalerweise nicht suchen würde:
Ein Standpunkt (ist) ein Gesichtskreis mit dem Radius null. (gemäss Marquard nach David Hilbert zitiert)
Nötiger als overhead ist … head.
Philosophen, die nur für professionelle Philosophen schreiben, agieren fast so absurd, wie Sockenhersteller es täten, die Socken nur für Sockenhersteller herstellen.
Druckkostenzuschüsse sind negative Literaturpreise: die Auszeichnung für voraussichtliches Nichtgelesenwerden.
Denn Texte sind … immer Belastungen und Belästigungen ihrer Mitmenschen. Das bedeutet: jeder Text muss dafür Busse tun, dass es ihn gibt.
Der skeptische Philosoph braucht die Leichtigkeit als Form, um sich auszuhalten: um sich selbst an den Denk- und Schreibtisch zu locken und um Busse zu tun dafür, dass er seine Mitmenschen mit Denken und Schreiben belästigt.
Philosophie ist, wenn man trotzdem denkt. Stil ist, wenn man trotzdem schreibt.
PSPS:
Siehe auch den Nachruf von Martin Meyer (damals NZZ-Feuilletonchef) auf Marquard, als Teil der Besprechung von Buch 2015-08.
Mit der folgenden Meldung wurde in der NZZ vom 13. Mai 2015 der Tod von Marquard bekanntgegeben:
Berufsskeptiker Der Philosoph Odo Marquard gestorben ujw. · Im Alter von 87 Jahren ist am 9. Mai in Giessen Odo Marquard gestorben. Das teilt die Justus-Liebig-Universität Giessen mit, an der der Philosoph fast drei Jahrzehnte lehrte. Aus der Münsteraner Schule Joachim Ritters hervorgegangen, war Odo Marquard eine der sichtbaren und prägenden Gestalten der deutschsprachigen philosophischen Szenerie seit den sechziger Jahren. Liberale Skepsis gegenüber allen Absolutheitsansprüchen, pointierter Stil und ein in seinem Fach nicht sehr verbreiteter Humor gehörten zu den Markenzeichen des scharfsinnigen Gelehrten, der das ihm eigene Genre einmal als «Transzendentalbelletristik» charakterisiert hat. Die Essaysammlungen, mit denen der «Berufsskeptiker» (Marquard über Marquard) auch über die Grenzen der universitären Sphäre hinaus bekanntwurde, tragen Titel wie «Abschied vom Prinzipiellen», «Apologie des Zufälligen», «Philosophie des Stattdessen» und «Zukunft braucht Herkunft». – Eine Würdigung folgt.