Philosophische Kehrseiten – Eine andere Einleitung in die Philosophie

Philosophische Kehrseiten – Eine andere Einleitung in die Philosophie
Natalie Pieper, Benno Wirz (Herausgeber), 2015-08

Ein Ärgernis will ich gleich am Anfang loswerden – es beginnt nämlich exemplarisch bereits mit dem Buchtitel, beziehungsweise Untertitel. Die Formulierung ‚Einleitung in die Philosophie‘ ist mindestens originell, wäre, falls sie wirklich beabsichtigt ist, dann aber eine Erklärung wert, beispielsweise im Kapitel ‚Einleitung‘. Wahrscheinlich ist sie jedoch schlicht und einfach schlampig, weil ‚Einführung‘ gemeint ist und dann auch so gesagt werden sollte. Geklärte Abwässer können in einen Fluss eingeleitet werden, aber nichts in die Philosophie. Das ist nicht Haarspalterei, sondern nur eine Anwendung der Erfahrung, dass schlechter, unverständlicher oder missbräuchlicher Sprachgebrauch normalerweise ein klares Indiz für schlampiges Denken und Mangel an Respekt für Leserinnen und Leser ist.

Leider machen die ersten beiden Kapitel den starken Eindruck, dass die beteiligten Autoren – vielleicht ein Merkmal ihrer Disziplin – solchen Sprachgebrauch gewohnt sind. Ich habe in meinem Buchexemplar Stellen, die davon zeugen, rosa markiert.

Nun Zum Buch – es beschäftigt sich mit folgender Gegebenheit (Zitate aus der Einleitung): «Jedes philosophische Projekt erfordert, sobald es in Angriff genommen wird, offengelegte oder implizite Entscheidungen. Diese haben konstitutiven Charakter und betreffen sowohl das Interesse, die Frage- oder Problemstellung, den zu behandelnden Gegenstand, die zu verwendenden Begriffe, die zur Anwendung gelangende Methode, die Zielvorgabe der Unternehmung, etc. Diese Entscheidungen eröffnen jeweils ein Feld von Denkmöglichkeiten und blenden zugleich andere Denkmöglichkeiten aus. … Die Rede von der ‚Kehrseite‘ richtet die Aufmerksamkeit auf ein Doppeltes: sowohl auf das Konstituierende des jeweiligen philosophischen Anliegens – auf die Grundentscheidungen, die Grundlagen, die Grundbegriffe, die Grundsätze und die methodischen Grundlagen; zugleich aber auch auf die Neben- und Abfallprodukte der jeweiligen Konstitutionsleistung, auf seine Grenz und Randbereiche. In den Blick gelangt das, was mitgedacht und mitläufig ist, jedoch nicht zur Debatte steht. … Im Zentrum steht vielmehr die Frage nach den Interessen und Strategien sowie nach den Gründen und Zielen, die philosophisches Denken zur Bildung von Kehrseiten veranlassen. Zu fragen ist, inwiefern Kehrseiten als immer anderer und konstitutiver Bestandteil der Philosophie mitzudenken sind, so dass das sich in ihnen meldende Denkpotential, insbesondere die Dynamiken des Drehens, Werdens und Kehrens, für eine der Eigenarten philosophischen Denkens gehandelt werden können.»

Alles klar? Es geht also darum, sich nicht nur um das ‚Konstituierende‘ einer philosophischen Frage zu kümmern, sondern auch um das, was die Konstitution per definitionem ausschliesst, also die Kehrseite, die Rückseite, die ‚Unterfläche‘. «Denkfiguren wie jene der Kehrseite statten philosophisches Denken mit einem dezidierten Interesse aus, das ihm eine Richtung vorgibt, ohne ein festumrissenes Ziel zu definieren. Es bleibt Raum und Spiel sowohl für Systematisierungen, ohne Anspruch auf Vollständigkeit des Systems, aber auch für Überraschungen, Findungen, Neues, nicht zuletzt für Irr- und Holzwege. Die Denkfigur der Kehrseite hält die Philosophie dazu an, sich reflexiv auf sich zu wenden, um die jeweils eigenen Konstitutionsleistungen, aber auch Begrenzungen, Auslassungen und Vernachlässigungen in den Blick zu nehmen. Dies führt nicht selten dazu, dass andere Probleme in den Vordergrund rücken, die das Denken dazu veranlassen, sich hinsichtlich seiner Begriffe und Verfahren zu erneuern. Zudem ermöglicht die Denkfigur der Kehrseite diejenigen Gegenstände, Interessen oder Verfahren zu thematisieren, welche die Philosophie oder ihre Tradition ausgekehrt haben. Nicht umsonst führt die Metapher der Kehrseite auch die Konnotation des Kehrichts mit sich. Gerade als Denkfigur stellt das Interesse an Kehrseiten das Potential bereit, auch Neben- und Abfallprodukte in der Philosophie zu thematisieren.»

Das Buch enthält Essays von «Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern (Anmerkung BB: der Universität und ETH Zürich) aus der Philosophie und Germanistik, die sich von 2009 bis 2012 in der Peer Mentoring-Gruppe ‚Philosophische Kehrseiten‘ zusammengefunden haben … Die schriftlichen Resultate dieser Beiträge gehen nicht von einem einheitlichen und klar definierten Begriff der Kehrseite aus. Vielmehr stellt sich für jeden Beitrag die Aufgabe, anhand der gewählten Thematik die aufgerufene Kehrseite herauszuarbeiten». Das Projekt ‚Philosophische Kehrseiten‘ wurde von der Abteilung Gleichstellung und der philosophischen Fakultät der Universität Zürich finanziert.

Der Zusammenhang zwischen der Abteilung Gleichstellung und einem philosophischen Projekt wäre allerdings eine separate Untersuchung wert.

Mit diesen Zitaten will ich einerseits festhalten, um was sich dieses Buch dreht (‚drehen‘ durchaus auch im Sinne von Kehrseiten), anderseits aber auch meinen Verdacht festhalten, dass es hier – aus der Sicht eines philosophischen Laien – um etwas ganz Banales geht: Wer mehr oder etwas anderes untersuchen will, als die ‚konstitutiven‘ Elemente einer konkreten philosophischen Frage enthalten, will eine erweiterte oder eine ganz andere Frage untersuchen, und dann ist die ergänzte oder neue Frage nicht mehr ‚kehrseitig‘, sondern ‚konstitutiv‘. Philosophisches Denken – oder philosophischer Diskurs – ohne klare ‚konstitutive‘ Grundlagen ist schlicht und einfach ein Unding!

Im Folgenden gehe ich auf die einzelnen Essays ein.

Schoeller, Donata: Anfang – eine pragmatistisch-hermeneutische Annäherung

Schoeller war nach Studium, Dissertation und einer sechsjährigen Assistenzzeit von der Philosophie in dem Sinne enttäuscht, als diese ihr «nicht den mindesten klärenden Effekt auf meine eigenen Erfahrungen und auf meine Haltungen im alltäglichen Leben zu haben schien.» Das änderte sich, nachdem sie auf den amerikanischen Philosophen und Psychotherapeuten Eugene Gendlin gestossen war. Sie war davon beeindruckt, wie Gendlin «die Eigenart individuellen Erfahrens in einer aussergewöhnlichen Art in den Mittelpunkt stellte».

Für mich lässt sich ihr Essay so zusammenzufassen: Es ist möglich oder normal, dass im Vorfeld einer wissenschaftlichen philosophischen Untersuchung die konstituierenden Elemente dieser Untersuchung nicht klar sind, und dass sie sich aus der Auseinandersetzung mit einer persönlichen Erfahrung oder einem persönlichen Erlebnis entwickeln lassen. Vielleicht lassen sich aus einem derartigen Prozess neue Einsichten gewinnen.

Für mich steht fest, dass das, was sie beschreibt, und das, worauf sie sich bei anderen Philosophen – die aber ebenso sehr als Psychotherapeuten oder Sprachanalytiker gesehen werden können –  bezieht, nichts mit einer philosophischen Frage zu tun haben, sondern ausschliesslich mit der persönlichen Klärung einer individuellen Lebenssituation (die aktuell oder eine Erinnerung an eine bisherige Erfahrung sein kann). Für einen philosophischen Text ist das alles zu vage, zu schwärmerisch-pathetisch, zu beliebig und zu sehr von Gefühl und Betroffenheit geprägt. Kaum erträgliches Geschwurbel!

Ich hoffe, dass die kommenden Essays etwas mehr bringen.

Forrer, Thomas: Rhythmus und Polytrophie – Lektüren von Details bei Platon

Der Autor stellt gleich zu Beginn klar, dass ihm der Begriff ‚Kehrseite‘ nicht passt. Er sieht in der Kehrseite einer Münze weder die Rückseite noch die Gegenseite, sondern verweist auf die zwecks Entscheidfindung aufgeworfene Münze, weil sich bei diesem Vorgang das Schicksal ‚kehren‘ kann. Mag ja sein, aber spitzfindig ist es schon. Immerhin verweist er auf weitere Beispiele der Verwendung des Worts ‚kehren‘, bei denen dessen Bedeutung nicht im Umwenden einer Fläche, sondern das Wenden auf einer Fläche gemeint ist (wie der Pflug am Ende einer Furche). Also verallgemeindert er die Beschäftigung mit den Kehrseiten auf die Beschäftigung mit dem, was auch noch da ist, nämlich mit dem Detail – wie Professor Gurke, der bei jedem ‚krummen Ding‘, das ihm unter die Augen kommt, das hohe Lied der Gurke zu singen beginnt.

Das Detail, dem Forrer sich dann widmet, ist das mittlere Glied des kleinen Fingers der linken Hand: eine sprachwissenschaftliche und hochspekulative Auseinandersetzung mit dem Begriff Rhythmus in Platons Niederschriften der Philosophie von Sokrates. Für mich ist der Zusammenhang mit Philosophie und dem eigentlichen ‚Angelpunkt‘ der Essay-Sammlung (nämlich dem Versprechen einer ‚anderen Einleitung in die Philosophie‘) nicht erkennbar.

Ich konnte das Elaborat nicht zu Ende lesen. Nicht zuletzt auch, weil die Sprache Forrers völlig unverständlich und darauf angelegt zu sein scheint, dass er sich für das NZZ- oder FAZ-Feuilleton bewerben will. Er verwendet jedenfalls – und das sind nur zwei willkürlich herausgepickte Rosinen – so wunderschöne Wortperlen wie ‚Paranomasie‘ oder ‚syntagmatisch‘. Für Banausen wie mich als Lesehilfe (aus dem Fremdwörterduden): Eine Paranomasie ist eine Zusammenstellung lautgleicher oder ähnlicher Wörter: syntagmatisch betrifft das Syntagma und bedeutet eine ‚zusammengehörende Wortgruppe‘, die nicht Satz ist; die Verbindung von sprachlichen Elementen in der linearen Redekette (z.B. in Eile, ein guter Schüler).

Die Länge des Essays (36 Seiten) ist umgekehrt proportional zu seinem Gewicht: Schrott – jedenfalls in einer Einführung in die Philosophie.

Strassberg, Daniel: Selbsttäuschungen

Strassbergs Essay beschäftigt sich nicht mit dem eigentlichen Thema der Sammlung, nämlich dass der Ausgangspunkt einer philosophischen Untersuchung (Entscheidungen hinsichtlich Interesse, Gegenstand, Begriffe, Methoden und Ziel) eine Konstitutionsleistung erbringt, die zwangsläufig zu Grenzziehungen, Differenzierungen, Ausschlüsse und Unterlassungen – eben zu ‚Kehrseiten‘ – führt. Das Ziel des Projekts ist nun gerade zu zeigen, dass die Beschäftigung mit dem ‚Ausgeschlossenen‘, also mit Kehrseiten, neue Erkenntnissen und produktive Denkprozesse hervorbringen kann.

Strassberg interessiert sich für ‚Kehrseiten‘ in diesem Sinne überhaupt nicht. Er erwähnt den Begriff nur zweimal, und nur beiläufig. Mit einem Bezug auf Lavoisier entlarvt er den Kehrseiten-Ansatz gar als wissenschaftlichen Humbug: «Nach dem Vorbild Lavoisiers ist das Isolieren des Untersuchungsobjekts die wichtigste Voraussetzung für das Gelingen eines wissenschaftlichen Experiments» (Seite 85). Ich nehme an, dass er auch philosophische Exploration zu ‚wissenschaftlichen Experimenten‘ zählt.

Trotzdem: seine Ausführungen zu Selbsttäuschungen, die allerdings in der Regel durch das Bemühen, ihnen zu entgehen, häufig erst recht produziert werden, sind durchaus amüsant und anregend. Beispiel (im Zusammenhang mit dem philosophischen Postulat, das Leben nach moralischen Prinzipien auszurichten:  «Entweder waren sie (Anmerkung BB: gemeint sind die Moralisten) unmoralisch und zufrieden, oder moralisch und unzufrieden.» (Seite 78)

Strassberg schreibt zwar nicht zur Sache, aber gut strukturiert und verständlich. Erfreulicherweise verzichtet er konsequent auf eine genderneutrale Terminologie: Philosophen und Philosophinnen sind bei ihm genau das, d.h. er kommt ohne Philosophierende aus – bravo!

Hampe, Michael: Fiktion

Das ist ein weiterer Beitrag, der nicht zum Thema und damit nicht in dieses Buch gehört: es handelt sich um das leicht bearbeitete Kapitel 10 aus dem für 2014 zur Veröffentlichung geplanten Buch «Die Lehren der Philosophie. Eine Kritik» Hampes. Die Bearbeitung beschränkt sich wohl darauf, dass auf Seite 114 anstandshalber der Begriff Kehrseite dreimal, aber ohne Zusammenhang mit dem Buchthema, eingefügt wurde. 

Critchley, Simon: Tragödie – Philosophie der Tragödie – Tragödie der Philosophie

Noch ein Beitrag, der weder seinem eigenen Titel noch dem Versprechen der Einleitung zur Essay-Sammlung gerecht wird. Er bietet eine hochgelehrte Analyse des Wesens der Tragödie, eine klare Abgrenzung zwischen Tragödie und Unfall (im allgemeinen Sprachgebrauch werden die beiden Dinge meist durcheinandergewirbelt: je grösser, unwahrscheinlicher, opferreicher oder verrückter, desto eher spricht man von Tragödie). Aber von einer Philosophie und schon gar von einer Abhandlung der Tragödie der Philosophie finde ich keine Spur.

Bronfen, Elisabeth: Geist/Gespenst

Das Gespenst ist die Kehrseite des Geists, und die Philosophie die Kehrseite der Literatur. Jetzt wissen wir’s. Das ist genug.

Pieper, Natalie: Sein

Als Herausgeberin der Essay-Sammlung ist Natalie Pieper wohl gezwungen, sich mit Kehrseiten zu befassen. Ihr Einstieg ist die Positionierung von Sein als philosophische Kehrseite. Die Frage ‚Kehrseite, wovon?‘ lässt sie allerdings offen. Das wird ja lustig…

Abbt, Christine: Vergessen

Hier ist das Thema ‚Vergessen und Erinnern‘. Abbt unterscheidet drei verschiedene Verständnisse zwischen den beiden Begriffen:

  1. Vergessen und erinnern stehen in einem Verhältnis der radikalen Opposition; es handelt sich zwar um unterschiedliche, aber gleichwertige kognitive Prozesse, die jedoch einen divergenten ethischen Status haben. Nur wer erinnert, übernimmt auch Verantwortung.
  2. Vergessen und erinnern sind untrennbar miteinander verbunden; eine normative Opposition wird abgelehnt. «Erinnern und vergessen sind … keine Gegensätze, sondern sich bedingende Prozesse, deren normativer Status nicht eindeutig oder definitiv zu bestimmen ist.»
  3. Vergessen und erinnern sind weder Gegensätze, noch bedingen sie sich gegenseitig, sondern sie sind identisch. Vergessen ist nur eine Form des Erinnerns (nach Eco). Vergessen ist also nicht das Gegenteil von erinnern, sondern eine Eigenschaft davon.

Abbt erkennt hier einen roten Faden, der sich auch bei der ‚Kehrseiten-Rhetorik‘ manifestiert, nämlich als «die Profilierung des radikalen Gegensatzes, die Differenzierung einer Zusammengehörigkeit, oder die Akzentuierung der Identität».

Es geht aber trotzdem nicht auf, weil der Kern des Kehrseiten-Rhetori falsch ist. Nach folgender Logik gibt es für eine seriös-wissenschaftliche Untersuchung schlicht und einfach keine Kehrseite:

Wie die Herausgeber in der Einleitung zum Buch selbst postulieren, stehen am Anfang jeder philosophischen Untersuchung die Festlegung des Untersuchungsbereichs: Untersuchungsgegenstand, Begriffe, Methoden und Ziel. Kehrseiten sind per definitionem das, was ausserhalb des Untersuchungsbereichs liegt.

Liegt nun ein bestimmter Aspekt ausserhalb dieses Untersuchungsbereichs, steht er nicht zur Diskussion – basta. Soll er trotzdem untersucht werden, ist der Untersuchungsbereich zu erweitern oder neu zu definieren, und zwar so, dass dieser bestimmte Aspekt dazu gehört; dann ist nicht mehr ausserhalb des Untersuchungsbereichs und keine Kehrseite. Soll er nicht untersucht werden, steht er eben nicht zur Diskussion, und es ist irrelevant, was er ist, ob Kehrseite oder nicht.

Die Kehrseite erscheint mir als artifizielles Konstrukt, um so politisch unkorrekte Begriffe wie Gegensatz, Gegenteil und ähnliche vermeiden zum können. Er erlaubt, schwammig und vag zu bleiben.

Ich gehe bei den weiteren Essays nur noch dann auf diese Frage ein, wenn sich zeigen sollte, dass meine (radikale) Zurückweisung des Aufhängers ‚Kehrseite’ unhaltbar oder zweifelhaft sein sollte.

Unabhängig davon, dass dieser Essay nicht in das Kehrseiten-Thema passt, ist er eine interessante und durchaus anregende Auseinandersetzung mit dem Begriffspaar ‚erinnern – vergessen‘.

Langnickel, Robert: Zweifel

Der Autor überschreibt sein erstes Kapitel mit ‚Zweifler, Gläubige und Wissende‘. Gleich zu Beginn bezieht er sich auf dasjenige Verständnis von Zweifel, das «in der Alltagssprache … für Skeptiker und Zweifler etliche pejorative Bezeichnungen» bereithält: «Schwarzseher, Defätist, Bedenkenträger und Kleingläubiger sind nur einige von etlichen Benennungen, welche eine allgemeine Missbilligung ausdrücken.»

Dieses Verständnis von Zweifel an den Anfang einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung zu stellen, erscheint mir als ausserordentlich fragwürdig. Dass er dann als erstes den «Zweifel als Kehrseite des Glaubens und Wissens» behandelt, macht die Sache auch nicht besser. Nicht nur, weil er Glauben und Wissen auf eine Begriffsebene stellt, sondern weil er damit ausserhalb der Wissenschaft bleibt. Er gibt immerhin soviel zu: in der «Analyse des Verhältnisses von Zweifel und Glauben verlassen wir erst einmal das Feld der akademischen Philosophie und wenden uns den Kontexten des religiösen Glaubens zu». In einem einzigen kurzen Satz gelingt es ihm, unbegründet die Philosophie als akademisch (umgangssprachlich also als weltfremd, abgehoben, für den Alltag irrelevant, etc.) zu entwerten, die im Titel des Unterkapitels geweckte Erwartung zu enttäuschen, etwas über Glauben und Wissen zu erfahren, weil jetzt nur noch von den ‚Kontexten des religiösen Glaubens‘ die Rede ist, und die unbeantwortbare Frage aufzuwerfen, was wohl mit den ‚Kontexten des Glaubens‘ gemeint sein könnte, wo doch Kontext (im Singular) vollauf genügen würde.

Das war jetzt wohl ein langer Satz, aber – in aller Unbescheidenheit – einer, der sich nicht so gründlich zerzausen lässt.

Auf Seite 222 macht Langnickel dann alles klar: «Es scheint (BB: warum ‚scheint‘?) einleuchtend, dass etwas Zweifelhaftes zur Begründung von Wissen nicht dienen kann. Wissen bedeutet für einen grossen Teil der Philosophie (BB: warum nur für einen grossen Teil? Wo ist die Philosophie, die eine andere Vorstellung von Wissen hat?) zumeist und zunächst zweifelsfreies Wissen. Aristoteles und Descartes sind nur zwei von vielen prominenten Denkern, welche hinsichtlich des Wissens eine fundamentalistische Position (BB: warum ist diese Position fundamentalistisch?) vertreten: Um in gerechtfertigter Weise behaupten zu können, dass Wissen vorliegt, müsse dieses absolut gewiss und somit zweifelsfrei sein.»

Also: Zweifel ist die Grundlage jeder Wissenschaft. Zweifel ist der Antrieb, die Grenze des Wissens zu verschieben; Zweifel ermöglicht neues Wissen. Ich bin gerne ein Zweifler und lasse mich deswegen nicht in die Ecke der Bedenkenträger und Miesmacher treiben.

Nach diesem Intermezzo jetzt wieder zu Langnickels ‚Zweifeln‘.

Wirz, Benno: Licht und Dunkel – Zur Gründung metaphysischen Denkens in Platons Sonnengleichnis

Auf Seite 236 unten steht:

«… so ist es Platon, der Licht und Dunkel als Kehrseite für die philosophische Begriffsbildung wie auch für die Gründung einer der prominentesten Spielarten philosophischen Denkens verwendet: für das metaphysische Denken. Aufgrund der Mitgänger dieser Kehrseite lässt sich in der Philosophie eine Lichtaffinität orten.»

Das ist der Knüller-Ablöscher gegen das Weiterlesen – ich quäle mich trotzdem vorwärts. Aber es hilft nichts: mit der metaphysischen Philosophie kann ich nichts anfangen; sie geht mir zu nahe an eine a priori festgelegte Position des Guten beziehungsweise an das heran, wo nicht mehr philosophisch gedacht, sondern nur noch religiös geglaubt wird. Und die Denkfigur der Kehrseite, die von Wirz exzessiv zelebriert wird, ist erstens völlig überflüssig und zweitens abstrus. Überflüssig, weil alles, was er aus der ‚Kehrseite‘ ableitet, auch ohne diesen Umweg – mit dem gesunden Menschenverstand – identifiziert werden könnte; und abstrus, weil er mit dem Begriff so salopp umgeht, dass meistens gar nicht klar ist, was denn nun die ‚Vorderseite‘, beziehungsweise das, was auf der anderen Seite der Kehrseite liegen soll, tatsächlich sein könnte (siehe obiges Zitat: ‚Licht und Dunkel’ (beides? oder nur eines der beiden? Welches?) soll ‚als Kehrseite für die philosophische Begriffsbildung … verwendet werden‘. Was soll das konkret heissen oder bedeuten?). Das ist alles so unverständlich, dass es gescheit sein muss – zu gescheit für mich!

Prika, Aleksandra: Ruine – Versuch über die philosophische Kehrseite bei Georg Simmel

Der Schlusssatz zu Benno Wirz gilt auch hier: so unverständlich, dass es gescheit sein muss – zu gescheit für mich. Der Essay erinnert mich bezüglich seiner Relevanz an die philosophischen Dispute des Mittelalters: Wie viele Engel haben auf einer Nadelspitze Platz? It’s sausage to me – so banal bin ich!

Gesamt-Fazit:

Die Essay-Sammlung ist eine grosse Enttäuschung. Sie enttäuscht, weil sie die Erwartung, die der Titel weckt, nämlich eine Einleitung (in meiner Übersetzung eine ‚Einführung’ in die Philosophie zu sein, ganz und gar nicht erfüllt. Sie enttäuscht, weil über weite Strecken gefaselt wird; und – last, but not least – weil sie philosophische Fragen behandelt, die entweder total ausgefallen oder so nebensächlich sind, wie das mittlere Glied des kleinen Fingern der linken Hand für den Weltuntergang!

Und die Kernthese, «das Interesse an Kehrseiten setze «einen Prozess in Gang, der philosophisches Denken in einer umschlagenden Bewegung hält», ist am Ende nicht einsehbarer als am Anfang.

Viel Lärm um nichts – schade! Schade auch für ein Projekt, das mit erheblichen Mitteln der öffentlichen Hand erst ermöglicht wurde. Man fragt sich unwillkürlich, welchen Erkenntnisgewinn denn die jungen Forscherinnen und Forscher, die am Projekt ‚Kehrseiten‘ beteiligt waren, daraus hatten.

PS:

Der Zufall will es, dass ich am Tag des Endes der Lektüre der ‚Kehrseiten-Philosophie‘ in der NZZ vom 15. Mai 2015 die folgende Würdigung des verstorbenen Philosophen Ode Marquard lese:

Der skeptische Optimist – Erinnerungen an den Philosophen Odo Marquard (von Martin Meyer, früherer Chef NZZ-Feuilleton)

Kein Widerspruch, sondern Dialektik – denn während Odo Marquard, der am 9. Mai im Alter von 87 Jahren in Celle verstorben ist, seiner Gegenwart in Zuversicht verbunden war, hielt er’s für die grundsätzlichen Realitäten von Welt und Leben mit einer kritischen und zweifelnden Position. Wenige Philosophen haben intensiver und zugleich humorvoller nachgedacht über die von Kant gestellten und seither weiterhin beunruhigend virulenten Fragen. Was können wir wissen? Was sollen wir tun? Was dürfen wir hoffen? Was ist der Mensch? Marquard variierte seine teils ausführlichen, teils aphoristisch zugespitzten Antworten im Lauf einer langen und vielbeachteten Karriere als Professor an der Universität Giessen wie als Prosaist stets mit überraschenden Aus- und Einblicken – doch der cantus firmus blieb sich treu. 

Er lautet so. Weil wir erstens endliche und zweitens mit mancherlei Mängeln bedachte Wesen sind, die am harten Brot der Wirklichkeit hängen, ist – oder wäre – Bescheidenheit angesagt. Vorsicht gegenüber himmlischen und irdischen Paradiesen, Argwohn gegenüber der Geschichte und ihren Heilsbotschaften, Demut im Umgang mit Politik, Moral und Vernunft. Als Marquard seit den späten vierziger Jahren in Münster und Freiburg die Fächer Philosophie, Germanistik und Theologie studierte, herrschte darüber einiger Konsens. Marquard selbst hatte noch nah an den Ereignissen den Wahn des Regimes und den Zusammenbruch in der Katastrophe erlebt. Die Stimmung nach der Stunde null war düster. Doch derweil andere ihr gedankliches Heil weiterhin in der Existenzphilosophie oder im retour offensif zu einem europäischen Humanismus suchten, entwickelte der von Kommilitonen und Lehrern als störrisch originell empfundene Student rasch eine eigene Handschrift. 

Inspiration und Eigenständigkeit

Marquard lernte von Heidegger das gedankliche Repertoire zu unserer Endlichkeit, ohne dass er dessen Pathos aufgesessen wäre. Von Horkheimer und Adorno liess er sich – jedenfalls in Ansätzen – von der Widersprüchlichkeit der Aufklärung überzeugen: hier das Licht der Emanzipation gegen Vorurteil und schlecht begründete Herrschaft, dort das Projekt der Machbarkeit mit einem in den Mythos zurückfallenden technischen Rationalismus. Es war aber insbesondere der dann in Münster lehrende Joachim Ritter, der seinem langjährigen Assistenten die wichtigsten Impulse vermittelte. 

In den fünfziger und sechziger Jahren scharte Ritter eine Reihe herausragender Talente um sich, die sich fortan selbstbewusst zur Ritter-Schule zählten. Unter diesen figurierten etwa Hermann Lübbe, Robert Spaemann, Willi Oelmüller und Karlfried Gründer. Ritters Forschungen kreisten um zwei Pole: um Aristoteles und dessen praktische Philosophie sowie um Hegel und dessen Denken in Geschichte. Odo Marquard wurde Hegelianer – aber nur insoweit, als auch er das Ideal einer aufgeklärt bürgerlichen Gesellschaft als wünschbares «Ende» möglicher sozialer Entwicklungen betrachtete. Er wurde, zweitens, Ritterianer, indem er eine Einsicht wirkungsreich unter die Gebildeten brachte, die Joachim Ritter vorausgenommen hatte. Die Formel dafür hiess: Zukunft braucht Herkunft. 

Will meinen: Je schneller sich die Lebens- und Merkwelten unter dem Diktat des wissenschaftlich-technischen Prozesses und seiner rasanten Innovationen verändern, umso mehr sind wir Zeitgenossen als Gefangene auf dem Floss der Beschleunigung auf Kompensationen angewiesen. Im Grunde schien sich hier ein Phänomen zu wiederholen, das bereits im 18. Jahrhundert – und nach den Folgen, die das Erdbeben von Lissabon ausgelöst hatte – zutage getreten war. Nichts führt hinter die Moderne zurück. Aber vieles, was diese Moderne laufend bringt und laufend wieder verwirft, bedarf einer dagegen ausgleichend heilsamen Lebenspraxis der Enttäuschungsfestigkeit. Marquard wies uns über die Jahrzehnte seines Denkens und Schreibens einen ganzen Katalog von «Kompensationen» vor, die dazu ausersehen wären, gegenläufig für Stabilitäten zu sorgen. 

Je compense, je suis 

Hierzu gehören Traditionen und Rituale, Erzählungen und Erinnerungen, das Museum und die Kunst und überhaupt ein Stil der verzögerten Reaktion auf alles, was als neuste Mode laut um sich schreit. Sammelbände fassten die Aufsätze und Essays zum Thema zusammen und in prägnante Titel: «Abschied vom Prinzipiellen», «Apologie des Zufälligen», «Skepsis und Zustimmung», «Philosophie des Stattdessen», «Zukunft und Herkunft», «Individuum und Gewaltenteilung», «Skepsis in der Moderne» – schon die Überschriften laden dazu ein, Distanz einzuschalten gegen den Druck einer verplanten und hybrid ausgreifenden Welt der Forderungen und Ansprüche. 

Wenn Marquard auch Moralphilosoph war, so war er’s, manchmal polemisch, im Gegensinn zu herkömmlichen Theorien zu Gerechtigkeit und allgemein-abstrakter Regulierung. Als die Achtundsechziger auch in Deutschland die Barrikaden stürmten und die Hörsäle ins Happening rissen, bewahrte Marquard kühlen Kopf. Er anerkannte das Bedürfnis nach genauerer Klärung und Aufarbeitung dessen, was die Generation der nach 1945 plötzlich von Amnesie befallenen Väter im Alltag des Mitläufertums und natürlich in exponierten Positionen erst recht getan hatte. Aber er wies das Bestreben zurück, den Marxismus oder gar den Maoismus und andere Absurditäten zur Richtschnur eines progressiven Philosophierens zu erheben. Mit den Aufgeregtheiten der späteren Frankfurter Schule konnte er wenig anfangen, und für alle Richtungen und Ideologien sollte ohnehin gelten: Sie überzogen und überziehen den Willen zur Veränderung und zur Totalisierung der Verhältnisse in eine Masslosigkeit, die wiederum in Katastrophen enden müsste. 

1973 legte Marquard im Reflex auf dieses Klima den Band «Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie» vor. Das Buch war sein Beitrag zur Debatte darüber, was aus der Geschichte zu folgern sei, und was eben nicht aus ihr abgeleitet werden kann. So sehr wir nicht nur wissen möchten, wie es weitergeht, sondern auch davon träumen, dereinst endlich erlösende und erlöste Verhältnisse zu schaffen, so sehr ist solchem Messianismus die Gefolgschaft zu verweigern. 

Marquard machte hier auch das Gegensatzpaar stark: Wenn die Geschichtsphilosophie periodisch wieder in der Ernüchterung gelandet ist, wendet sie sich aus Einsicht und aus Not der Anthropologie zu. 

Anthropologie war für Odo Marquard – auf den Spuren von Hellmuth Plessner und Arnold Gehlen – das Eingeständnis, dass wir bei forciertem Wollen und ungenügender «Ausstattung» hierfür an Grenzen gelangen und dort scheitern. Hinzu kommt die Kürze des Lebens, immer vor dem Hintergrund des Bewusstseins und Innewerdens von Endlichkeit und Sterblichkeit. Als Marquards Kollege Hans Blumenberg anno 1986 das geniale Werk «Lebenszeit und Weltzeit» vorlegte, erkannte Marquard mit generöser Bewunderung darin die ins Grosse ausholende Philosophie, die seine eigenen Bemühungen und Arbeiten mit anklingen liess, aber vor allem reflektierend überhöhte. 

Das Glück?

Marquard war ein glänzender Stilist. Kurze, definitorisch vorgetriebene Sätze wechseln mit langen und durch die typischen Gedankenstriche durchbrochenen Perikopen. Marquard liebte die Pointen – in seltenen Fällen zu sehr. Er war ein spannender Redner. Als in den späten siebziger Jahren in Stuttgart ein Kongress zum Thema des Glücks stattfand, erschien Marquard als Zaubermeister mit dem provokativen Vortrag des Titels «Glück im Unglück». Für eine diskrete Kontroverse trat dort nun aber Robert Spaemann ein. Spaemann erreichte die Apotheose seiner Glückstheorie schliesslich damit, dass er das Glück als die Erfahrung eines in Zusammenhängen gerundeten Lebens bezeichnete. Sein skeptischer Vetter im Geiste aber wollte und konnte es nur begreifen als Momentum der wohltätigen Überraschung im persönlichen und allgemeinen Meer vorherrschender Unglückszeit: Glück im Unglück. Da wurden zwei Standpunkte evident und zugleich zwei virtuose Charaktere kenntlich.

Nein, alles Prinzipielle, alles zu Grundformeln Gesteigerte, alles Grosstheo­retische – bis hin zu Lehren einer kommunikativ gewordenen (Welt-)Vernunft – blieb Odo Marquard suspekt. Die bereits von Descartes präparierte provisorische Moral hatte es ihm angetan, und dazu passte ein ausgesprochen liebenswertes und altmodisch höfliches und bescheidenes Auftreten. An Kongressen, an Jubiläen, an den Tagungen der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, deren stolzes Mitglied er geworden war, erlebte ich einen Mann, der den Titel des Philosophen deshalb verdiente, weil er quer zu den meisten seiner Zunft weder ein Besserwisser noch ein Eitler und schon gar kein Technokrat war. 

Für diese Zeitung schrieb Odo Marquard seit den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts und noch lange regelmässig, wann immer man ihn nur fragte. Sein Plädoyer für Bildungsbürgerlichkeit gewann schliesslich sogar die Couleur des Revolutionären – unter der Erfahrung aus Beobachtung, dass man noch wüsste, was diese einmal gewesen war und leisten konnte. 

Die Marquard’sche Wortschöpfung ‚Transzendentalbelletristik’ gefällt mir und reizt mich, quasi zur Reinigung vom ‚Kehrseiten‘-Blabla eine der erwähnten Essay-Sammlungen zu verarbeiten. Beim Googlen über Marquard, von dem ich bislang nie gehört habe, stosse ich auf eine weitere stupende Wortschöpfung: die ‚Inkompetenzkompensations­kompetenz’. Marquard fasst die gesamte Philosophiegeschichte unter diesem Begriff zusammen und will damit sagen, dass der rote Faden der Entwicklung der Philosophie ein sukzessiver Kompetenzverlust ist. Ursprünglich hält sich die Philosophie für alles ‚kompetent’. Dann verliert sie als erstes die ‚soteriologische‘ Kompetenz (d.h. die Zuständigkeit, den Menschen den Weg zum richtigen Leben, zum Heil zu zeigen); dann verliert sie die ‚technologische‘ Kompetenz (die Führung im Bereich des Nutzenwissens, auf dem sie von den exakten Wissenschaften überholt und überflüssig gemacht wird), und schliesslich die ‚politische‘ Kompetenz (die Zuständigkeit für das ‚gerechte Glück der Menschen‘, die von der Praxis der Politik übernommen worden ist. Heute bleibt der Philosophie eben nur noch die Inkompetenzkompensationskompetenz.

Damit habe ich die abschliessende Beurteilung der ‚Kehrseiten-Philosophie‘ gefunden: es ist eine vorbehaltlose Bestätigung der Inkompetenzkompensationskompetenz der Philosophie.

Marquard sei Dank!

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