Von Sils-Maria aus betrachtet – Ausblicke vom Dach Europas (1991)

Von Sils-Maria aus betrachtet – Ausblicke vom Dach Europas (1991)
Iso Camartin, 2014-23

Bei diesem Buch handelt es sich um eine Sammlung von Essays, die 1987 – 1990 bereits in diversen Medien, mehrere in der NZZ, publiziert worden sind.

Der Titel ist in dem Sinne irreführend, als die Suggestion, Sils-Maria (oder das Engadin) spiele bei Camartins Überlegungen eine prominente Rolle, nicht wahrgemacht wird, und sich so gewissermassen als Marketing-Gag herausstellt. Und Sils-Maria als ‚Dach Europas‘ zu positionieren, ist mehr als gewagt (ich kann mir das jedenfalls nicht vorstellen).

So oder so – die Essays sind – wie bei Camartin nicht anders zu erwarten – brillant geschrieben und bieten Leserin und Leser ungewöhnliche und anregende Rückblicke auf historische, kulturelle oder sprachliche Eckpunkte Graubündens und Einblicke in die aktuelle Befindlichkeit der Schweiz. Allerdings stellt sich bei einigen Essays heraus, dass Camartins Beobachtungen und Analysen in den rund 25 Jahren seit der Erstpublikation einige Patina angesetzt haben. Dazu zähle ich die in verschiedenen Essays angesprochene Haltung der Schweizer gegenüber dem Fremden oder das Verhältnis der Schweiz zu Europa. Manchmal macht der Autor es sich zu leicht, die Weigerung gewisser Bevölkerungsteile der Schweiz, anderen, armen Menschen grenzenlos zu helfen, einfach als herzlos oder hinterwäldlerisch zu be- und verurteilen. Camartin meint, dass die Schweiz, weil sie von grossen Geschichtskatastrophen wie etwa dem Zweiten Weltkrieg verschont geblieben sei (gemäss Camartin primär dem Glück zu verdanken), jetzt quasi als Entschädigung ad libitum Solidarität leisten müsse. Das kommt sehr gutmenschelnd daher und ist – weil keinerlei Überlegung zum ‚Ende‘ einer solchen Haltung, zum ‚respice finem‘, angestellt wird – in gewissen Kreisen sicher sehr populär, um nicht zu sagen populistisch motiviert, aber letztlich zu kurz gedacht.

Überhaupt fällt Camartin immer wieder in die Falle aller ‚Progressiven im Lande‘, die meinen, die Schweiz sei etwas Besseres als andere Länder und sei deswegen nicht nur berechtigt, sondern geradezu verpflichtet, diesen den rechten Weg zu weisen. Die Vorstellung, dass die Schweiz ein Land ist wie alle anderen, und die Schweizerinnen und Schweizer Menschen wie alle anderen sind, und dass die Schweiz wie alle andern Länder zunächst primär ihre eigenen Interessen zu vertreten hat, ist offenbar unseren (vorwiegend linken) Eliten zu wenig elitär, oder ganz einfach zu banal.

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