
Der seltsame Name des Autors kommt daher, dass er indianisches Blut hat. Er ist Nachfahre (8. Generation) eines Einwanderers aus Lancashire, der im Vorfeld des Unabhängigkeitskriegs von den ‚Tories‘ getötet worden war, weil er Rebellen gegen das Kolonialregime mit Lebensmitteln versorgt hatte. Sein Vater war Indianer, pardon, ‚native American‘ und nannte sich Heat-Moon. Dessen beiden Söhne erhielten die Vornamen ‚Little‘ (der ältere) und ‚Least‘ (der jüngere) – alles ganz logisch. ‚Heat-Moon‘ hiess beim Stamm des Vaters des Autors der siebte Monat, also der sommerheisse Juli, (auch ‚Blood Moon‘ genannt, vermutlich wegen der Farbe des Himmels in der Abenddämmerung).
Der Titel des Buchs widerspiegelt den Umstand, dass in alten amerikanischen Strassenkarten das gesamte Interstate-System rot gekennzeichnet war, während die ‚kleineren‘ Strassen (also State Highways etc.) blau dargestellt waren. Die Reise, die der Autor beschreibt, hatte das Ziel, die USA, ab Missouri, wo der Autor lebte, möglichst entlang ihrer Aussengrenzen ausschliesslich auf Nebenstrassen, eben ‚Blue Highways‘, zu umfahren.
Auslöser der Reise war eine persönliche Krise des Autors (Zerfall der Ehe, Job-Verlust). Über das Ziel der Reise ist sich der Autor selbst im Unklaren. Er lässt das ganze Spektrum offen: von der feigen Flucht aus einem ‚kaputten‘ Leben bis zur spirituellen Suche nach Wahrheit.
Die Reise fand 1978 statt und dauerte rund drei Monate. Sie führte von Columbia, Missouri nach Osten an die Atlantikküste, nach Süden und quer durch die USA nach Kalifornien, Oregon und Washington, dann entlang der kanadischen Grenze zurück an den Atlantik, und dort von Main nach Virginia und dann via West Virginia wieder zurück nach Columbia. Das Fahrzeug war ein Ford Econoline ‚van‘, den der Autor selbst in ein spartanisch ausgerüstetes Wohnmobil umgebaut hatte. Zum Zeitpunkt der Reise war der Autor 40 Jahre alt. Er hatte an der University of Missouri in Sprachwissenschaften (englisch) und Geschichte doktoriert und war dort auch als Professor in Englisch tätig.
Nach der Reise benötigte Heat-Moon vier Jahre für die Niederschrift und endlose Überarbeitung seines ‚travelogs‘; es wurde 1983 erstmals publiziert, wurde nach einem langsamen Verkaufsstart ein Bestseller und stand fast ein Jahr lang auf der Bestsellerliste der New York Times.
Das ist auch kein Wunder, denn ‚Blue Highways‘ ist ein wunderbares Buch. Seine Haupteigenschaften sind:
- fantastisch gut geschrieben,
- voll von präzis beobachteten und glänzend auf den Punkt gebrachten Begegnungen mit Menschen, die man wohl mit Fug und Recht als typisch für die Welt der Nebenstrassen bezeichnen kann,
- eindrückliche Landschaftsbeschreibungen,
- kluge und tief reflektierte Reflexionen über Geschichte und Zustand der USA (einschliesslich Rassenfragen, Lebensqualität, soziale Beziehungen),
- eine Fülle von aufschlussreichen Bezügen zu Europa, Weltliteratur und generellen gesellschaftlichen Fragen, und auch
- sehr fundierte und zum eigenen Nachdenken anregende Überlegungen zum Sinn des Lebens, zu dem, was ein Leben lebenswert machen kann, und zu dem, was ein Mensch am Ende des Lebens hinterlässt beziehungsweise worauf er zurückblicken kann.
Die Lektüre von ‚Blue Highways‘ wird erleichtert, wenn Leser oder Leserinnen mit der Geografie der USA vertraut sind. Sie wird zum totalen Vergnügen, wenn man Gegenden, die im Buch beschrieben werden, bereits bereist hat. Obwohl das Buch aus vielen kleinen und kleinsten Kapiteln besteht und dadurch zur ‚random‘ Lektüre einlädt, empfiehlt es sich, ausser vielleicht ab der zweiten oder dritten Lektüre, das Buch von vorne nach hinten zu lesen. Denn im Buch werden die Reisebeschreibung, die Eindrücke, die dabei entstehen, und die persönliche Entwicklung des Autors aufs Engste miteinander verknüpft.
Wer immer noch dem Mythos anhängt, Amerikaner seien nur oberflächlich und weder zur gedanklichen Tiefe noch zu gedanklichen Höhenflügen fähig, wird mit ‚Blue Highways‘ eines Besseren belehrt. Heat-Moon selbst und zahlreiche seiner Begegnungen zeugen davon, dass Verständnis für und Sehnsucht nach Sinn auch bei einfachen Menschen zu finden sind. Auch in dieser Hinsicht ist das Buch ein Gewinn, indem es dem zeitgeistig Modernen, der von inneren Selbstzweifeln geplagten Sicherheit, alles zu wissen und zu kennen, dem urbanen Schick, der sich anbahnenden Oberflächlichkeit einer sich stets beschleunigenden Internetzivilisation und der Arroganz des Sich-alles-leisten-Könnens die Einfachheit, Geerdetheit, Bescheidenheit, Selbstsicherheit und den Humor von Menschen, die tagtäglich um ihre Existenz kämpfen müssen, gegenüberstellt.Auch wenn das Buch vor gut 35 Jahren entstanden ist, bleibt es – bis auf wenige Bezüge zur damaligen Aktualität –auch heute noch gültig. Wer Amerika verstehen will, ist gut beraten, dieses Buch zu lesen und zu geniessen.