Der neue Tugendterror – Über die Grenzen der Meinungsfreiheit in Deutschland

Der neue Tugendterror – Über die Grenzen der Meinungsfreiheit in Deutschland
Thilo Sarrazin, 2014-10

Vorweg: Mit der Lektüre dieses Buchs kann man sich die Lektüre des Vorvorgängers «Deutschland schafft sich ab» ersparen; denn im neuen Wälzer wiederholt Sarrazin die wesentliche Essenz seiner These von der Abschaffung Deutschlands.

«Der neue Tugendterror» besteht aus sechs im Wesentlichen voneinander unabhängigen Teilen:

Teil 1 behandelt die Frage «Was ist Meinungsfreiheit und wie bestimme ich ihre Grenzen?»

Teil 2 untersucht als Fallstudie «Wie ich mit der Meinungsfreiheit in Konflikt kam?»

Teil 3 analysiert die Elemente der Meinungsbildung.

Teil 4 behandelt die Sprache als Instrument des Tugendterrors.

Teil 5 ist dem «Kult des Wahren, Guten und Schönen: Tugendterror im Wandel der Zeiten» gewidmet. Anschliessend folgt ein kleiner Exkurs zu den Begriffen Moral und Gewissheit.

In Teil 6 beschreibt Sarrazin 14 Axiome des Tugendwahns im heutigen Deutschland. Für jedes Axiom formuliert er ein ‚Postulat‘, d.h. eine Umschreibung dessen, was von den Repräsentanten des Tugendterrors in deren Perspektive angestrebt wird. Da überbietet er sich gelegentlich so mit ironischen, sarkastischen oder zynischen Pointen, dass gelegentlich der Eindruck entsteht, das sei nicht (ganz) ernst gemeint.

Dem ‚Postulat‘, stellt er die ‚Wirklichkeit‘ gegenüber und widerlegt es.

Im letzten (kurzen) Teil «Ideologie, Wirklichkeit und gesellschaftliche Zukunft» kommt Sarrazin nach den gelegentlich eher ablenkenden und irritierend ausschweifenden Axiomen wieder auf seine Hauptthese zurück, auf den Gleichheitswahn als Religion, den er klar dem Tugendterror zuordnet.

Im Wesentlichen kreist Sarrazin im ganzen Buch wiederkehrend um die Religion der Gleichheit (im Sinne der Einebnung oder Leugnung aller gruppenspezifischen Unterschiede oder der Gleichheit der Ergebnisse). Er begründet und erklärt geradezu ausschweifend,

  • dass Gleichheit nicht in der Natur des Menschen liegt (weil Ungleichheit der mächtigste Antrieb zu neuen Entdeckungen, zum Streben nach Verbesserung der Lebensverhältnisse (‚pursuit of happiness‘), sowie generell zur Weiterentwicklung des Menschen als Individuum und der menschlichen Gesellschaft insgesamt ist;
  • dass die Beseitigung von Ungleichheit deswegen unerwünscht, d.h. nicht im Interesse der Menschheit ist;
  • und dass die Beseitigung von Ungleichheit – wenn sie denn überhaupt möglich wäre – die totalitäre Abschaffung oder Unterdrückung der Freiheit bedingen würde.

So sehr die Hauptthese Sarrazins meinem eigenen Denken entspricht, habe ich doch einige kritische Bemerkungen (vor allem bei den 14 Axiomen in Teil 6).

  1. Das Buch ist viel zu lang (knapp 350 Seiten) und enthält Unmengen von Redundanz und unscharfer Abgrenzung. Die wichtigsten Thesen und erforderlichen Begründungen könnte man leicht auf 100 Seiten unterbringen. Damit behindert Sarrazin leider die Wirkung des Buches; d.h. er macht es seinen Gegnern, die gleichzeitig Hohepriester des Gleichheitswahns sind, zu leicht, das Buch zu ignorieren oder kleinzureden. Das ist sehr schade.
  2. Auch Sarrazin kommt nicht darum herum, immer wieder die Gerechtigkeitskeule zu schwingen, oder sie zu kritisieren. Leider verpasst er es, den Begriff ‚Gerechtigkeit‘ ebenso gründlich zu erläutern und zu desavouieren wie den der ‚Gleichheit‘. Der Nachweis, dass es so etwas wie Gerechtigkeit nicht geben kann, ohne vorher alle, die ihn verwenden wollen, zu zwingen, den Begriff ausschliesslich und immer mit identischen Kriterien und Massstäben für die Bemessung des Grads der Erfüllung von ‚Gerechtigkeit‘ zu verwenden; in letzter Konsequenz würde auch so die Freiheit ausgerottet.

Immerhin: Sarrazin macht im Kontext der ‚Gleichheit‘ überdeutlich, dass für die Gleichheit nicht nur materieller Wohlstand, Ausbildung, Erziehung, etc. massgebend sind, sondern eine Vielzahl von weiteren oder ‚weichen‘ Faktoren, z.B. Resilienz gegen Widerstände oder Rückschläge, Schönheit, körperliche Gesundheit, Leistungsbereitschaft, etc., die sich der Steuerung durch irgendwelche Gleichheitsmissionare vollständig entziehen. Sinngemäss führt dies ja zwingend zur Schlussfolgerung, dass, wo es Gleichheit nicht geben kann, es auch keine Verteilungsgerechtigkeit geben kann.

  • Sarrazin ist zu defensiv, vor allem in Teil 3. Der Reflex zur manchmal weinerlichen oder selbstgefälligen Selbstverteidigung taucht jedoch endemisch im ganzen Buch immer wieder auf. Das ist sowohl unnötig und ärgerlich, denn Leserinnen und Leser gehören ja wohl kaum zu seinen Feinden und haben ihm nichts angetan.
  • Gewisse theorielastige Ausführungen sind manchmal etwas gar plakativ. Beispielsweise wird der Zusammenhang zwischen Ideologie (Religion) und Gleichheitswahn ausschliesslich eurozentrisch dargestellt. Mir scheint, dass es Gleichheitswahn und Tugendterror auch in anderen Kulturkreisen gibt. In jedem Fall wäre die allfällige Tatsache, dass Gleichheitswahn eine eurozentrierte Krankheit ist, eine zwingende Aufforderung zu untersuchen, warum das so ist, und was Europa oder ‚der Westen‘ daraus lernen könnte.

Fazit: Trotz dieser Kritik finde ich Sarrazins neues Buch äusserst lesenswert. Es enthält eine Vielzahl von praktischen Beispielen und Zitaten von historischen Persönlichkeiten, die im schlechten (befürwortenden) und guten (ablehnenden) Sinn mit dem Gleichheitswahn verbunden sind, die einen Fundus für Diskussionen im kleinen Kreis hergeben und die Thesen Sarrazins kräftig würzen.

Insgesamt habe ich aber den Eindruck, dass Sarrazin’ sich totläuft. Im Vergleich zum Furor, den er mit «Deutschland schafft sich ab» ausgelöst hat, blieb bei seinem zweiten Buch die Welt weitgehend ruhig; von seinem dritten hört man nichts. Nicht einmal die deutsche Talkshow-Szene thematisiert den Tugendwahn. Vielleicht haben seine Gegner auch einfach begriffen, dass ‚ignorieren‘die wirksamste Art und Weise ist, um jemanden öffentlich totzuschweigen, beziehungsweise dass ‚nicht ignorieren‘ die beste Werbung, Anerkennung und Aufmerksamkeit wäre, die einem Autor wie Sarrazin zuteil werden könnte.

Wenn Sarrazin recht hat, ist offensichtlich, dass genau das niemand will.

Zum Abschluss übernehme ich den letzten Absatz von Sarrazin:

«Ich wünsche mir mehr Leidenschaft für die Wirklichkeit und ihre spröden Kausalitäten. Der moralische Impetus muss sich auf die Bekämpfung des Bösen richten und weniger drauf, die Menschen beim Gutsein zu bevormunden. Dazu muss man sie so nehmen, wie sie sind: mit gleichen Rechten, aber mit ungleichen Antrieben und Eigenschaften Geborene, deren Streben nach Glück sie auf ungleiche Wege führen kann. Staat und Gesellschaft leisten viel, wenn sie möglichst vielen Menschen diesen Weg erleichtern».

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