
«… and I am kidding, and I am not kidding …» Lerner beginnt schon auf der ersten Seite mit einem dieser absurden Sätze, die einen bestimmten Sachverhalt sowohl bejahen als auch verneinen. Oder «Including myself, I was older and younger than everyone in the room.» (Seite 7) Das kann man lustig finden. Ich kann dem jedoch nichts abgewinnen und finde einen Satz, der keinen Zusammenhang mit dem Kontext hat, in sich selbst widersprüchlich ist, keinen Sinn ergibt, und einen Sachverhalt feststellt, der logisch unmöglich ist, einfach nur blöd.
Das ist nach der Lektüre seines ersten Buchs «Leaving the Atocha Station» (siehe Besprechung 2020-20) leider keine Überraschung, aber eine Enttäuschung. Manierismen machen keine gute Literatur.
Der Ich-Erzähler hat keinen Namen; wenn er von sich selbst redet, ist er ‚the author‘. Es könnte also sein, dass es sich um die gleiche, einige Jahre gealterten Person handelt wie beim ‚Helden‘ von Ben Lerners «Leaving thr Atocha Station» (siehe Besprechung 2020-20), also dem ersten Band der Trilogie. Der war jedenfalls ebenfalls Schriftsteller und lebte im gleichen Milieu wie ‚the author‘ (New Yorker Intellektuelle, Schriftsteller, Literaturprofessoren, Therapeuten, Künstler und Galeristen). Normale, in Brotberufen tätige Menschen kommen kaum vor, und wenn überhaupt, dann als gesichtslose Kulissenschieber und Komparsen. Auch in diesem zweiten Band der Trilogie erhält ‚the author‘ von einer Stiftung eine Art Stipendium, das aus einem bezahlten Aufenthalt in einer Künstlerkolonie in Marfa, Texas, besteht. Das Ziel des Stipendiums ist, ein Konzept für einen Roman, für das er von einem renommierten Verlag einen hohen Vorschuss erhalten hat, in einen fertigen Roman zu entwickeln. Dass er entweder gar nicht auf dieses Ziel hin arbeitet, und wenn, dann an der Entwicklung eines ganz anderen Buchs, ist in dieser Gesellschaft offenbar das Normalste der Welt.
In «10:04» lebt Lerner seine Manie, bestimmte Sachverhalte im gleichen Satz sowohl zu bejahen als auch zu verneinen, weiter aus. Ein Sinn dieser Spielerei wird jedoch nirgends ersichtlich; es sei denn, der Autor wolle auf diese Art und Weise die banale Tatsache, dass eben manches so, aber auch anders sein kann, ausdrücken. Er geht aber noch eine Stufe weiter, indem er eine seiner Romanfiguren auf die Suche nach der Erfahrung der Erfahrung schickt. Es genügt also dieser Figur nicht, eine Erfahrung zu machen, sie will sich vielmehr darauf konzentrieren zu erfahren, wie es ist, eine Erfahrung zu machen. Solche Spielereien mit der Metaebene gibt es in mehreren Varianten; eine davon besteht darin, davon auszugehen, dass beim Ziehen der Weisheitszähne eine bestimmte Art der Betäubung zwar die Schmerzen vollständig beseitigt, aber auch die Erinnerung an den Prozess an sich auslöscht. Die Person, die sich dieser Prozedur unterziehen muss, hat nun den Eingriff zwar schmerzlos überstanden, kann sich aber trotzdem an den Prozess erinnern. Danach verfolgt sie das Problem, dass der Eingriff, an den sie sich wegen der gewählten Art der Betäubung nicht erinnern können sollte, an den sie sich aber sehr wohl erinnert, offensichtlich gar nicht stattgefunden haben kann. Solche Sorgen müsste man haben…
Ein weiteres Text-Beispiel soll illustrieren, weshalb ich diesem Buch und Autor wenig abgewinnen kann (Seite 109 oben):
«What I felt when I tried to take in the skyline – and instead was taken in by it – was a fullness indistinguishable from being emptied, my personality dissolving into a personhood so abstract that every atom belonging to me as good belonging to Noor (Anmerkung BB: eine momentane Bekanntschaft des Schreibenden), the fiction of the world rearranging itself around her. If there had been a way to say it without it sounding like presumptuous co-op nonsense, I would have wanted to tell her that discovering that you are not identical with yourself even in the most disturbing and painful way still contains the glimmer, however refracted, of the world to come, where everything is the same but a little bit different because the past will be citable in all of its moments, including those that from our present present happened but never occurred. You might have seen me sitting there on the bench that midnight, my hair matted down from the bandanna, eating an irresponsible quantity of unsulfured mango, and having, as I projected myself into the future, a mild lacrimal event.»
Für mich sind das oberflächlich wohltönende, aber inhaltlich nichtssagende hohle Phrasen, die weder im Gesamtzusammenhang noch ‚Wort für Wort‘ den geringsten Sinn ergeben. Ich bin geneigt zu sagen, dass dies alles nicht zu einem ‚mild lacrimal event‘, sondern zu Heulen und Zähneknirschen führt.
Der Roman ist eine Ansammlung von bestenfalls lose miteinander verbundenen Episoden; ich kann keinen roten Faden erkennen. Auch ein konkreter Bezug zum realen Leben ist für mich nicht erkennbar. Die einzelnen Episoden sind wohl sprachlich gekonnt beschrieben, allerdings nach dem Motto, dass dann, wenn mehrere Wortvarianten für die Beschreibung eines Sachverhalts zur Verfügung stehen, das komplizierteste und anspruchsvollste Wort zu wählen ist.
Einzelne Episoden sind – isoliert betrachtet – originell und amüsant. Dazu zähle ich das ganze Drum und Dran mit der Samenspende oder die für mich neuartige Idee, eine Art Museum für sogenannte ‚totaled‘ Kunst aufzubauen und zu betreiben. Der Begriff ‚totaled‘ kommt aus der Versicherungsbranche und bezeichnet Kunstwerke, die entweder verloren gegangen oder durch Vandalenakte oder andere äussere Einflüsse (z.B. Feuer oder Wasser) so unrettbar zerstört sind, dass ihr Versicherungswert den jeweiligen Besitzern ausbezahlt wird und die noch vorhandenen physischen Teile der Werke einen Wert von Null erhalten. Die ‚totaled‘ Kunstwerke werden von der Versicherungswirtschaft in einer Datenbank geführt und sind damit einem Handel weitestgehend entzogen. Das kann absurde Folgen haben, wenn beispielsweise ein einzelnes Bild eines Triptychons ‚totaled‘ ist, die beiden anderen Bilder jedoch noch völlig intakt erhalten sind: das Triptychon als Ganzes ist dann eben ‚totaled‘.
Per Saldo kann ich mit dieser Häppchen-Literatur nicht viel anfangen. Ich verstehe die Kritiker nicht, die so etwas über den grünen Klee loben. Wahrscheinlich bin ich zu alt dafür.